Essen. . Im Interview verteidigt Jürgen Trittin die Finanzpläne der Grünen und sieht noch gute Chancen für eine rot-grüne Regierung nach der Bundestagswahl. Der Bundestagsfraktionschef hält auch das totale Rauchverbot in Kneipen für ein Signal der Freiheit.

Jürgen Trittin führt als Spitzenkandidat den Grünen-Bundestagswahlkampf an. Im Interview kritisiert er die Bundesregierung harsch – auch auf wirtschaftspolitischem Feld.

Die Grünen haben in Nordrhein-Westfalen das strenge Rauchverbot in Kneipen vorangetrieben. Die Grünen waren früher eine rebellische Partei. Sind sie heute eine Partei der Verbieter?

Jürgen Trittin: Wir sind die Partei der Freiheit. Freiheit wird beschnitten, wenn Menschen, die einen geselligen Abend in einer Eckkneipe verbringen und dabei nicht zwangsweise Tabakrauch inhalieren wollen, dies nicht tun können. Freiheit endet dort, wo sie die Freiheit anderer beschränkt. Deshalb sind die Einschränkungen für Raucher vernünftig.

Um Freiheit geht es auch, wenn wir in diesen Tagen über die amerikanischen und britischen Lauschangriffe reden…

Trittin: …womit unsere besten Freunde millionenfach gegen unsere Strafgesetze verstoßen. Ich hätte von der Kanzlerin erwartet, dass sie der anmaßenden Totalüberwachung unserer Bürgerinnen und Bürger und auch unserer Unternehmen durch ausländische Geheimdienste deutlich entgegentritt. Stattdessen will die Regierung das Thema aussitzen, ja rechtfertigt das amerikanische Vorgehen sogar. Die Bevölkerung findet das skandalös.

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Abhörmaßnahmen gibt es nicht erst seit gestern. Schon zu Ihren Regierungszeiten müssen Sie doch davon erfahren haben. Warum haben Sie da nicht eine rote Linie eingezogen?

Trittin: Es geht nicht um einzelne Abhörmaßnahmen. Es geht um die Totalerfassung der Kommunikation aller Bürger. Ich kann nicht ausschließen, dass auch Dienste in Deutschland ihr Wissen an den Kontrollgremien des Bundestages vorbeigeschleust haben. Aber unser Vertreter im Kontrollgremium, Christian Ströbele, hätte mit Sicherheit Alarm geschlagen, wenn er je etwas von dieser Totalüberwachung gehört hätte.

Wie wollen Sie das Abhören beenden?

Trittin: Großbritannien verstößt damit gegen geltende europäische Datenschutzregeln. Die EU-Kommission muss hier ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Teil der Verhandlungen mit den USA über ein Freihandelsabkommen muss es sein, dass die Amerikaner eine künftige europäische Datenschutzrichtlinie respektieren, von der ich erwarte, dass sie bald zustande kommt. Derzeit wird sie von Deutschland blockiert. In diesem Freihandelsabkommen muss auch festgeschrieben werden, dass die Umwelt-, Verbraucher- und Datenschutzstandards gegenseitig respektiert werden. Ein Drittes: Wir müssen die Abkommen über die Vermittlung von Bankdaten und Flugpassagierdaten an die USA kündigen.

Schwarz-Grün im Bund hätte keine große Perspektive 

Warum wollen die Grünen nach der Bundestagswahl die Steuern erhöhen?

Trittin: Falsch, wir wollen alle Normal- und Geringverdiener entlasten. Aber ich war gestern in Oberhausen, zusammen mit dem Kämmerer. Meiner eigenen Heimat Göttingen geht es Gold im Vergleich zu Oberhausen oder Duisburg. Dort zeigt sich besonders: Wir haben es einerseits mit einer massiven finanziellen Schwäche der öffentlichen Hand zu tun. Die Infrastruktur zerfällt. Andererseits müssen wir Schulden abbauen. Dafür wollen wir die reichsten 345 000 Deutschen über eine Vermögensabgabe heranziehen. Wenn wir das nicht machen, müssen es alle anderen zahlen.

Es gibt den Vorwurf, die grünen Steuerpläne würden viel mehr Bürger treffen…

Trittin: 90 Prozent der Deutschen werden durch unsere Pläne steuerlich entlastet. Und was kann man dagegen haben, wenn die komplette steuerliche Absetzbarkeit von Dienstwagen von einer Verbrauchsobergrenze abhängig gemacht wird? Ist das so schrecklich? Wir wollen den Wahnsinn dieser ermäßigten Mehrwertsteuer korrigieren. Was man lesen und essen kann gehört ermäßigt, alles andere nicht. Wenn Sie hier Korrekturen machen, spart der Steuerzahler 3,5 Milliarden Euro. Auch: Wie kommen wir dazu, Gewinne, die am Kapitalmarkt erzielt werden, geringer zu besteuern als Gewinne, die ein Unternehmer in den Betrieb investiert? Das hat die große Koalition eingeführt. Wir machen es rückgängig.

Gibt es noch Chancen auf einen rot-grünen Wahlsieg im September?

Trittin: Ja. Ich habe im Januar in Niedersachsen Wahlkampf gemacht – mit schlechten Umfragedaten der SPD. Wenig später ist uns dann der Machtwechsel gelungen, wie zuvor in fünf anderen Ländern. Zudem gerät die Bundesregierung in die Defensive. Die Reallöhne sinken wieder. Die Exporte brechen ein - vor allem die in die Eurozone. Die Regierung tut ja so, als gehe uns die Rezession in den Eurostaaten nichts an.

Trotzdem. Der SPD-Wahlkampf hinterlässt einen ziemlich miserablen Eindruck. Sehen Sie das auch so?

Trittin: Wir arbeiten für ein sehr starkes grünes Ergebnis, damit es für Rot-Grün reicht.

Mit welchem Rezept ist ein Sieg noch drin?

Trittin: So, wie wir in Nordrhein-Westfalen gewonnen haben. Die Grünen müssen also mehr dazugewinnen als CDU und FDP zusammen verlieren. Das ist das Rezept, das dazu führt, dass wir jetzt sechs Bundesländer mit der SPD regieren.

Wenn das nicht funktioniert: Ist auch Schwarz-Grün eine Option?

Trittin: Die Erfahrungen mit schwarz-grünen Koalition in den Ländern haben gezeigt, dass man nicht zusammenbringen kann, was nicht zusammen gehört. Sie haben keine Wahlperiode durchgehalten. Auf Bundesebene sind die inhaltlichen Differenzen noch größer. Wir sind in diesem Wahlkampf die Alternative zu Merkels sedierter Gesellschaft – und nicht ihr Mehrheitsbeschaffer.