Essen. . Rudolf Seiters, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, setzt auf die Unterstützung junger Menschen. Zwar sinke die Bereitschaft, sich an eine Hilfsorganisation zu binden. Dafür seien mehr Menschen bereit, spontan zu helfen.

Das Rote Kreuz, dessen Gründungsvater Henri Dunant das Leiden der Verwundeten in der Schlacht von Solferino nicht ertragen konnte, wird in diesen Tagen 150 Jahre alt. Rudolf Seiters, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, sieht heute ganz neue Herausforderungen – und braucht dafür die Hilfe junger Zuwanderer.

Die Flut in Ostdeutschland hat zum massivsten Hilfseinsatz des Deutschen Roten Kreuzes seit Jahren geführt. Sie hatten bis zu 4 000 Freiwillige im Einsatz. Was haben Sie daraus gelernt?

Rudolf Seiters: Wir haben vor allem festgestellt, dass wir viel vom Fluteinsatz 2002 lernen konnten. Die Koordination ist jetzt viel besser gelaufen – die zwischen den staatlichen Stellen und den Hilfsorganisationen und auch die zwischen unserem Lagezentrum und den Helfern vor Ort. Es gibt kaum noch etwas zu verbessern.

Was ist anders geworden bei solchen Einsätzen?

Seiters: Dass es nicht nur um die akute Nothilfe bei Evakuierung und der Sicherung der Deiche geht – wir haben mehr als 20 000 Feldbetten im Einsatz gehabt -, sondern auch um eine Nachsorge. Nicht betroffene Kindergärten müssen sich um die Kinder der Flutopfer kümmern. Sozialarbeiter gehen von Haus zu Haus und fragen: Wo sind die Härtefälle? Wie sieht es mit der Versicherung aus? Ein Rundum-Paket.

Anders als 2002, als das DRK 140 Millionen Euro erhielt, tröpfeln allerdings die Spenden nur…

Seiters: Wir sollten bei dem Vergleich vorsichtig sein. 2002 hatten wir die seit vielen Jahrzehnten erste große Katastrophe in Deutschland. Es gab dramatische Bilder, auf denen, wie in Sachsen, Menschen um ihr Leben gekämpft haben. Der Spendenfluss war also sehr groß. Das ist in diesem Jahr sicher anders. Aber der Spendenzustrom hält an. Wir ziehen die Bilanz später.

Spenden die Deutschen generell weniger?

Seiters: Nein. Die Bereitschaft zu spenden ist nach wie vor groß. Allerdings geben die Deutschen bei solchen Katastrophen in der Regel mehr als bei den Auswirkungen von Bürgerkriegen wie in Syrien. Für die Hilfe dort konnten wir bisher etwa fünf Millionen Euro einsetzen.

Das Rote Kreuz feiert in diesen Tagen sein 150-jähriges Bestehen. Wo liegen die Aufgaben für Hilfsorganisationen in der Zukunft?

Seiters: Wir werden das Jubiläum nutzen, um für die große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung zu danken, aber auch, um die künftigen Herausforderungen zu nennen. Natürlich bleibt die Hilfe bei internationalen Noteinsätzen ein Schwerpunkt. Aber klar ist auch: Das Ehrenamt wird wichtiger, weil die Gesellschaft älter wird.

DRK-Präsident Rudolf Seiters.
DRK-Präsident Rudolf Seiters. © dpa

Wo liegt die größte Herausforderung?

Seiters: Es wird mehr alte und damit auch demente Menschen geben. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird von heute 2,2 auf 4,7 Millionen im Jahr 2050 ansteigen. Gleichzeitig sinkt der Anteil der jüngeren Menschen. Einer immer höheren Zahl von Hilfebedürftigen werden immer weniger potenziell Helfende gegenüberstehen.

Wie füllen Sie die Lücke?

Seiters: Wir müssen mehr junge Leute für das Ehrenamt gewinnen, vor allem mehr junge Zuwanderer. Diese sind mit 15 Millionen ein riesiges Potenzial. Wir wollen Hilfsbereitschaft also interkulturell aufstellen. Das ist ein Schwerpunkt der Mitgliederwerbung in diesem Jahr.

Das DRK unterhält 500 Altenheime, das sind 40 000 Plätze. Müssen Sie hier ausbauen – oder bei der ambulanten Hilfe zu Hause?

Seiters: Wir behalten beides im Auge. Sicher wird die ambulante Pflege in Zukunft wichtiger werden. Denn alle Umfragen zeigen, dass die Menschen in ihrem gewohnten Umfeld alt werden möchten. Wir bauen noch mehr ehrenamtliche Angebote auf, um alten und einsamen Menschen zu helfen, sie zu besuchen oder ihnen einfach nur die Hand zu halten.

Bei jungen Leuten wächst das spontane Engagement 

Die Gesellschaft verändert sich. Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und große Organisationen verlieren Mitglieder. Auch das DRK ist betroffen. Ist das der Rückzug in Private?

Seiters: Wir hatten einmal 3,9 Millionen Fördermitglieder. Jetzt liegen wir bei 3,5 Millionen. Der Trend, den Sie nennen, trifft alle Organisationen. Auch uns. Aber das ist kein Rückzug ins Private. Ich glaube, dass es bei jungen Menschen eine veränderte Haltung zum Ehrenamt gibt. Sie sind weniger bereit, sich dauerhaft in einer festen Vereinsmitgliedschaft zu binden. Dafür wächst spontanes Engagement, und das in großem Umfang wie beim Hochwasser oder in Bürgerinitiativen.

Können Sie den Trend nutzen?

Seiters: Für uns ist entscheidend, dass die Zahl der aktiven Helferinnen und Helfer nicht sinkt. Das tut sie nicht. Seit Jahren haben wir eine stabile Ressource von 400 000 Menschen. Auch das Jugendrotkreuz, 110 000 junge Leute sind aktiv, verliert nicht. Es baut derzeit zum Beispiel den Sanitätsdienst an Schulen aus.

Haben Sie den Wegfall des Zivildienstes verkraftet?

Seiters: Das Schlimme war, dass dies überraschend kam und schnell umgesetzt werden musste. Das hat uns Sorge gemacht. Wir haben aber gegengehalten. Heute sind wir mit rund 11 500 Plätzen im Freiwilligen Sozialen Jahr der stärkste Anbieter. Beim neuen Bundesfreiwilligendienst besetzen wir mit aktuell rund 2790 Plätzen alle Stellen. Wir wollen unsere BFD-Plätze im Freiwilligenjahr 2013/14 weiter auf über 3 200 Plätze ausbauen.

Was hindert Sie?

Seiters: Wir wünschen uns für die Zukunft, dass der Bund eine bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Freiwilligendienste auch finanziell ermöglicht. Es wäre schade, wenn man interessierten Menschen jeden Alters, die wollen, eine Absage erteilt, weil die Gelder nicht zur Verfügung stehen. Es geht nicht um Unsummen.

Gilt das auch für den Unterhalt der Kitas? Hier haben Eltern ab August einen Rechtsanspruch darauf, ihre unter Dreijährigen unterzubringen. Sie betreiben ja heute schon 1300 Tagesstätten mit 100 000 Kindern.

Seiters: Hier gibt es aus unserer Sicht Bedarf. Ich sehe eine Schieflage. 1,6 Millionen Familien werden von einem alleinerziehenden Elternteil geführt. Die Hälfte der Alleinerziehenden bezieht Sozialleistungen zur Sicherung ihres Existenzminimums. Bei Paarhaushalten sind es unter zehn Prozent. Dafür ist der Mangel an Kinderbetreuungsplätzen hauptverantwortlich. Der Staat wird hier drauflegen müssen genau so wie bei der Pflege. Wir werden unsere Forderungen an den nächsten Bundestag in den nächsten Wochen formulieren.

Die Lösungen sind teuer.

Seiters: Wir haben gemeinsam mit dem Familienministerium beim Institut der Deutschen Wirtschaft eine Studie in Auftrag gegeben. Ergebnis: Die flächendeckende Ganztagesbetreuung für Kinder ab einem Jahr würde 2,4 Milliarden Euro kosten. Die Nutzung der neuen Betreuungsplätze aber würde 1,8 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen spülen, weil die Alleinerziehenden dann arbeiten können und Steuern und Sozialabgaben zahlen. Es rechnet sich. In der Familienpolitik ist dieses Thema wichtiger als das geplante Betreuungsgeld.