Hooghalen/Westerbork. Es wurde das „Tor zur Hölle“ genannt. Mitten im Niemandsland in der Provinz Drenthe befand sich einst das Lager Westerbork. Wir waren vor Ort.

Eine malerische Heidelandschaft, viel Natur mit weiten Feldern und einem kleinen Wald. Welch entsetzliches Grauen sich hier, in dieser schönen Umgebung, vor 80 Jahren abgespielt hat, mag man sich kaum vorstellen. „Tor zur Hölle“ wurde das Areal damals genannt, es befindet sich

Anne Frank und ihre Familie wurde im September 1944 mit dem letzten Zug nach Bergen-Belsen deportiert. In ihrem Versteck in Amsterdam, wo sie das berühmte Tagebuch schrieb, wurde sie von Nachbarn verraten.
Anne Frank und ihre Familie wurde im September 1944 mit dem letzten Zug nach Bergen-Belsen deportiert. In ihrem Versteck in Amsterdam, wo sie das berühmte Tagebuch schrieb, wurde sie von Nachbarn verraten. © nrz | heiko buschmann

in der Provinz Drenthe – und ist seit 1983 eine viel besuchte Gedenkstätte. Wir haben sie uns angesehen.

Als die Nazis in Deutschland die Macht übernehmen und im Zuge ihrer Rassenpolitik damit beginnen, vor allem Juden systematisch zu verfolgen, wird der abgelegene Standort im Nordosten der Niederlande zunächst zum Flüchtlingslager. Genau genommen gehört das Gelände heute zum Dörfchen Hooghalen, allerdings ist es nur unter dem Namen Durchgangslager beziehungsweise Kamp Westerbork bekannt.

Reichskristallnacht als Auslöser

Der Auslöser für die massenhafte Flucht von Juden vor Hitler und seinen Schergen in die benachbarten Niederlande – sowie in andere Länder – sind die Pogrome in der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. und 10. November 1938. Am 9. Oktober 1939 kommen die ersten 22 Flüchtlinge in Westerbork an. Ende Januar 1940 sind es 167, Ende April schon 749 Vertriebene, die nirgendwo anders einen Unterschlupf finden – und in der einsamen Gegend eiligst ein paar einfache Baracken zum Schlafen zusammenzimmern müssen. Hier sind sie allerdings nicht lange sicher. Mit dem deutschen Einmarsch ins Nachbarland am 10. Mai 1940 und der niederländischen Kapitulation vor der Wehrmacht nur fünf Tage später ändert sich dort alles.

Bevor die Nazis im Nachbarland die Macht übernehmen, wird in Westerbork ein Evakuierungsplan geschmiedet. Im Falle einer Invasion sollen die jüdischen Flüchtlinge über Zeeland nach England gebracht werden – der Plan scheitert. Die Flüchtlinge fahren zwar mit dem Zug von Hooghalen ab, aber sie kommen nur bis Zwolle. Die IJssel-Brücke ist gesprengt, die alternative Route über den Afsluitdijk endet in Leeuwarden, wo die Juden zunächst bei Familien untertauchen.

Die Schlinge zieht sich zu, die niederländischen Behörden verfügen nun, alle jüdischen Flüchtlinge in Westerbork unterzubringen. Dort gibt es keinen freien Ausgang mehr, das Lager wird unter Führung des neuen Kommandanten Jacob Schol streng bewacht. Auf der anderen Seite gibt es innerhalb des Geländes noch so etwas wie ein „normales Leben“, die Kinder gehen zur Schule, die Männer arbeiten und die Frauen kümmern sich ums Essen – bis aus dem Flüchtlings- das polizeiliche Judendurchgangslager wird.

Auf dem Gelände des Lages Westerbork war auch ein Krankenhaus in Betrieb. Wer dort lag, wie diese alte Frau, musste zumindest vorübergehend nicht seine Deportation befürchten.
Auf dem Gelände des Lages Westerbork war auch ein Krankenhaus in Betrieb. Wer dort lag, wie diese alte Frau, musste zumindest vorübergehend nicht seine Deportation befürchten. © nrz | heiko buschmann

Es ist der 1. Juli 1942, als Westerbork unter das Kommando der Sicherheitspolizei (SD) fällt. Als im Oktober 1942 SS-Obersturmführer Albert Konrad Gemmeker die Lagerleitung übernimmt, macht er aus Westerbork eine perfekt funktionierende Todesmaschinerie.

SS-Gemmekers Todeslisten

Dabei gibt sich der in Düsseldorf geborene Polizist zunächst als „anständiger Herr“ aus. Gebrüll wie auf dem Kasernenhof gehört der Vergangenheit an, Gemmeker führt sein perverses System vom „teilen und herrschen“ vor allem effizient aus. Weil die den Deutschen unterstellte Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland (NSB) Jüdischstämmige aus den ganzen Niederlanden nach Westerbork bringt, wird das Lager immer voller. Das soll nicht so bleiben, und Gemmeker weiß genau, wie.

Unter dem Anschein eines nahezu normalen Lebens mit Krippe, Kindergarten und Schule für die Kinder, Sport, Theateraufführungen und einfachem Arbeitsalltag entsteht hier das „Tor zu Hölle“.

Schon als Westerbork noch ein Flüchtlingslager ist, sorgen Jüdinnen und Juden selbst für die interne Organisation. Nun, unter deutscher Knechtschaft, wird der in grünen Overalls gekleidete jüdische Ordnungsdienst – auch als „jüdische SS“ bezeichnet – zum Todeskommando. Die aus ehemaligen Soldaten sowie Jugendlichen bestehende Truppe muss nicht nur Fluchtversuche verhindern und Fehlverhalten an die Lagerleitung melden, sondern auch Listen erstellen. Neu ankommende Juden von außerhalb werden zunächst fein säuberlich registriert, doch wer in den nächsten Monaten beim Aufstellen auf dem Appellplatz seinen Namen hört, sitzt bald im Zug gen Osten.

Baracke 56 wurde nach dem Abriss des Lagers von einem Bauern gekauft und zwischenzeitlich als Hühnerstall genutzt.
Baracke 56 wurde nach dem Abriss des Lagers von einem Bauern gekauft und zwischenzeitlich als Hühnerstall genutzt. © nrz | heiko buschmann

Über 100 sind es zwischen der ersten Deportation am 15. Juli 1942 und der letzten am 13. September 1944, in der auch die in ihrem Versteck in Amsterdam aufgeflogene Familie Frank mit der jungen Tagebuchschreiberin Anne in den Tod fährt. Die fest verriegelten Güterwaggons, auf denen mit weißer Kreide fein säuberlich die Zahl der wie Vieh eingepferchten Insassen vermerkt wird, verlassen das Lager über die Ortschaften Hooghalen, Assen, Hoogezand, Sappemeer, Zuidbroek, Winschoten und Nieuweschans. Drei Tage dauert die Fahrt bis nach Auschwitz im heutigen Polen, die Hoffnung, dort nicht einfach umgebracht zu werden, hält die Deportierten irgendwie aufrecht – ein schlimmer Trugschluss.

Insgesamt 102.000 Menschen, vor allem Jüdinnen und Juden, aber auch einige Sinti und Roma sowie Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, landen in den Vernichtungslagern, die meisten in Auschwitz, der Rest in Sobibor, Bergen-Belsen, Theresienstadt, Ravensbrück und Buchenwald.

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Der ehemalige Lagerhäftling Ralph Prins hat das berühmte Mahnmal mit den nach oben gebogenen Gleisen entworfen.
Der ehemalige Lagerhäftling Ralph Prins hat das berühmte Mahnmal mit den nach oben gebogenen Gleisen entworfen. © nrz | heiko buschmann

Die Nazis sind gerade dabei, Gleise für einen direkten Anschluss nach Auschwitz zu bauen, da dreht sich im Zweiten Weltkrieg das Blatt. Als am 12. April 1945 kanadische Streitkräfte das Lager Westerbork befreien, sind nach dem Abzug der SS noch etwas mehr als 850 jüdische Gefangene vor Ort. Sofort können sie das „Tor zur Hölle“ allerdings noch nicht verlassen, denn bis in den gesamten Niederlanden die Gräuel beendet sind, dauert es noch – und zwar länger als bis zum eigentlichen Kriegsende am 8. Mai.

Aus Sicherheitsgründen dürfen erst Anfang Juli 1945 die letzten Gefangenen Westerbork verlassen. In der Zwischenzeit müssen sie die Nachricht ertragen, dass ihre deportierten Verwandten, Freunde und Bekannten im „Osten“ von den Nazis ermordet worden waren.

Auf dem damaligen Appellplatz, der später in Form einer Landkarte der Niederlande angelegt wurde, erinnern 102.000 kleine Stelen an die von den Nazis ermordeten Menschen, einige sind dort auf Fotos zu sehen.
Auf dem damaligen Appellplatz, der später in Form einer Landkarte der Niederlande angelegt wurde, erinnern 102.000 kleine Stelen an die von den Nazis ermordeten Menschen, einige sind dort auf Fotos zu sehen. © nrz | heiko buschmann

Kaum auszuhalten: Während sich ihr Peiniger Gemmeker einen Tag vor der Befreiung des Lagers absetzen kann, müssen die verbliebenen Juden in Westerbork auch noch mit dem Feind leben. Ab dem 24. April 1945 kommen nämlich die Nazis zurück, nun können sie immerhin keinen Schrecken mehr verbreiten. Bis zum 1. Dezember 1948 dient das Gelände als Internierungslager für Mitglieder der NSB, der SS und anderen Gefolgsleuten.

Lange Jahre bis zum Mahnmal

Bis Westerbork schließlich zur Erinnerungsstätte wird, dauert es fast 40 Jahre. Vom 1. Dezember 1948 bis September 1949 fungiert das Areal als Militärlager, ab 1951 spielt sich hier ein Stück Kolonialgeschichte ab. Als die Republik Indonesien 1949 ihre Unabhängigkeit erklärt, verlassen Molukker, die in der niederländischen Armee gedient haben, Südostasien und lernen die Provinz Drenthe kennen. Das frühere Lager heißt nun Wohnort Schattenberg. Nach einem Brand ziehen die meisten Molukker aus, ehe ab 1971 alle Baracken abgerissen werden.

Es ist nur eine Zahl auf einem grauen Stein, doch sie dokumentiert das schlimme Verbrechen, das von Westerbork ausging: Allein 60.330 Gefangene wurden vom Durchgangslager ins KZ nach Auschwiitz deportiert.
Es ist nur eine Zahl auf einem grauen Stein, doch sie dokumentiert das schlimme Verbrechen, das von Westerbork ausging: Allein 60.330 Gefangene wurden vom Durchgangslager ins KZ nach Auschwiitz deportiert.

Die Initiative, eine Erinnerungsstätte für nachfolgende Generationen zu schaffen, geht von Manja Pach aus. Die Tochter eines Lagerüberlebenden weilt am 4. Mai 1971 zum Gedenken an die Toten von Westerbork an dem von Königin Juliana 1970 offiziell enthüllten und vom ehemaligen Lagerhäftling Ralph Prins entworfenen Denkmal - – die berühmten nach oben gebogenen Gleise. Als Manja Pach aber im Hintergrund die Bagger hört, wie sie die Baracken dem Erdboden gleichmachen, schreit sie: „Stoppt den Abriss, sofort!“

Weitere zwölf Jahre gehen ins Land, aber am 12. April 1983 ist es so weit: Königin Beatrix eröffnet die Gedenkstätte Kamp Westerbork.

Im Museum Kamp Westerbork zeigt eine Tafel, wohin die
Im Museum Kamp Westerbork zeigt eine Tafel, wohin die © nrz | heiko buschmann

>>> Teleskope direkt neben dem früheren Lager

Flüchtlings-, polizeiliches Judendurchgangs-, Militär-, Hof Schattenberg: Die heutige Gedenkstätte Kamp Westerbork hatte in den vergangenen 84 Jahren seit ihrer Einrichtung im Jahr 1939 viele Bestimmungen. In den 1960er Jahren kam eine kuriose hinzu. Im Jahr 1967 wurde das erste Radioteleskop auf dem Gelände des vormaligen Lagers installiert. Später folgten 13 weitere. Die störungsfreie Zone der Teleskope machte es notwendig, dass das Museum etwa drei Kilometer entfernt vom Gelände des früheren Lagers liegt. Per Busshuttle geht es durch den Wald zu Baracken und Gleisen.
Adresse:
Herinneringscentrum Kamp Westerbork, Oosthalen 8, 9414 TG Hooghalen. Weitere Infos und Öffnungszeiten: www.kampwesterbork.nl.