Essen. Thyssenkrupp wird mit der NS-Vergangenheit konfrontiert. Zwangsarbeit spielte im Konzern eine große Rolle – unter anderem in Auschwitz.

Bei Forschungen renommierter Historiker zur Rolle des Essener Industriellen Alfried Krupp während der Nazi-Zeit rückt auch das Thema Zwangsarbeit in den Fokus. In einem 70-seitigen Bericht, den der Marburger Geschichtsprofessor Eckart Conze und der Historiker Jens Brüggemann vorgelegt haben, sprechen sich die Experten für eine „Neubewertung“ im Zusammenhang mit Zwangsarbeit beim Thyssenkrupp-Vorgängerkonzern aus.

„Es ist unstrittig, dass die Firma an den Verbrechen des NS-Regimes beteiligt war. Das gilt insbesondere für ihre Rolle als Teil des gigantischen deutschen Zwangsarbeitersystems“, schreiben die Historiker. „Der Krupp-Konzern gehörte aufgrund seiner Größe zu den Unternehmen der Privatwirtschaft, die in größtem Umfang Zwangsarbeiter beschäftigten.“ Das Ausmaß der Ausbeutung bei Krupp sei dabei wohl größer als bisher bekannt. „Die häufig genannte Zahl von etwa 100.000 Menschen dürfte zu niedrig angesetzt sein“, erklären die Forscher. So fehlten unter anderem zum Konzern gehörende Unternehmen, die Zwangsarbeiter beschäftigten, in den Firmenstatistiken. Der „Faktor Fluktuation“ sei bisher ebenfalls nicht ausreichend gewichtet worden. Auch mit Blick auf „KZ-Zwangsarbeit“, also Zwangsarbeitseinsatz von Häftlingen in Konzentrationslagern, seien die Statistiken nicht vollständig. Damit sei die Zahl der Krupp-Zwangsarbeiter vermutlich höher als bislang angenommen.

Die Essener Krupp-Stiftung, in der das Vermögen von Alfried Krupp (1907-1967) aufging, hat das Forschungsvorhaben selbst initiiert. Überraschend hatte Stiftungschefin Ursula Gather im Herbst 2021 den Anstoß gegeben, das Handeln des Essener Unternehmers in der NS-Zeit eingehend zu betrachten. Alfried Krupp habe „ohne Zweifel Schuld auf sich geladen, über die keineswegs schon alles gesagt und geschrieben“ sei, sagte sie zur Begründung.

Thyssenkrupp: „Kritische Auseinandersetzung sinnvoll“

Die Stiftung ist größte Aktionärin des heutigen Stahl- und Industriegüterkonzerns Thyssenkrupp, an den sich nun neue Fragen mit Blick auf die dunkle Vergangenheit richten. „Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte auch mit neuen Perspektiven ist wichtig und sinnvoll“, erklärte Thyssenkrupp auf Anfrage unserer Redaktion. „Das Unternehmen begrüßt es daher ausdrücklich, dass die Stiftung dieses Projekt initiiert hat und auch die Fortsetzung der Forschung finanziert.“

Schon die ersten Ergebnisse, die von den Historikern nun vorgelegt worden sind, lassen aufhorchen. Die Situation von Zwangsarbeitern bei Krupp ordnen die Experten dabei in einen Gesamtkontext ein. Zahlreiche Studien hätten die „oft erbärmlichsten Lebensverhältnisse“ beschrieben, die besonders schwer Kriegsgefangene und Zivilarbeiter aus der Sowjetunion und KZ-Häftlinge trafen. Als Folge davon starben nach Angaben der Historiker etwa zweieinhalb Millionen Zwangsarbeiter in Deutschland an den Folgen ihres Arbeitseinsatzes.

„Mangelhafte Ernährung, Überbelegung von Lagern, schlechte hygienische Verhältnisse“

Eine Ablehnung des Einsatzes von Zwangsarbeitern während der NS-Zeit sei für Betriebe angesichts „staatlicher Produktionsauflagen“ kaum möglich gewesen, so die Forscher. „Der Staat setzte den Rahmen für Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter, der sich maßgeblich nach ihrem Stellenwert in der NS-Rassenideologie richtete.“ Die staatlichen Vorgaben bedeuteten aber nicht, „dass Unternehmer keine Handlungsspielräume hatten, steuernd auf den Umfang und vor allem die Ausgestaltung des Zwangsarbeitereinsatzes einzuwirken“, geben die Historiker zu bedenken.

Mit Blick auf das Unternehmen Krupp zeichnen sie ein düsteres Bild. „Es finden sich Hinweise auf mangelhafte Ernährung, die Überbelegung von Lagern, schlechte hygienische Verhältnisse und medizinische Versorgung, für Kinderarbeit, das Ausüben von Gewalt und eine routinierte Zusammenarbeit mit den Behörden beim Umgang mit ‚auffällig gewordenen‘ Zwangsarbeitern“, heißt es in dem 70-seitigen Bericht. Es gebe allerdings auch Hinweise für Versuche von Krupp-Mitarbeitern, sich für eine Verbesserung der Situation einzusetzen – etwa im Bereich der Lagerküchen.

Verfügbarkeit von Zwangsarbeitern für Krupp „wichtiger Faktor“ für Standortwahl

Alfried Krupp, der letzte Alleininhaber der Firma Krupp sei „wiederholt in zahlreiche Aspekte des Themas involviert“ gewesen – im Konzern und in Wirtschaftsgremien. Das gelte beispielsweise für die Anforderung von Zwangsarbeitern oder die Planung von Vorhaben, bei denen mit Zwangsarbeitern gerechnet worden sei. „Auch bekam er Berichte aus zahlreichen Kanälen, in denen die Situation der Zwangsarbeiter ebenso wie bei Besprechungen thematisiert wurde, und er konnte diese Menschen selbst wahrnehmen, bei Lager- und Werksbesichtigungen“, so die Historiker.

Nach ersten Recherchen sei es schon jetzt möglich, eine zum Teil vertretene These zu widerlegen, die laute, es habe im Krupp-Konzern bis zum Jahr 1944 eine ablehnende Haltung zum Einsatz von KZ-Häftlingen als Zwangsarbeiter gegeben und es sei bis in den Sommer 1944 nicht zum Einsatz von KZ-Häftlingen als Zwangsarbeiter gekommen, schreiben Conze und Brüggemann. Für zwei Produktionsstandorte, das „Berthawerk“ im niederschlesischen Markstädt sowie für das Konzentrationslager Auschwitz, zeige sich, dass die Firma Krupp nachweisbar ab Mitte 1942 mit dem Einsatz von KZ-Zwangsarbeitern „nicht nur plante, sondern dass deren Verfügbarkeit für die Standortwahl ein wichtiger Faktor war“. Im Fall von Auschwitz sei die zu erwartende Verfügbarkeit von Zwangsarbeitern neben dem Bau von Werkshallen durch die Nazi-Organisation SS vermutlich sogar „der entscheidende Faktor“ gewesen.

Alfried Krupp über einzelne Projekte „bestens informiert“

Die Werkshallen seien im März 1943 nach der Zerstörung einer ausgebombten Zünderwerkstatt in Essen bei einer Besprechung in Anwesenheit von Alfried Krupp als „Ausweichproduktionsort“ festgelegt worden, so die Historiker. Nachkriegsaussagen von Krupp, der angegeben habe, das Oberkommando des Heeres (OKH) habe Auschwitz als neuen Standort für die Zünderfertigung vorgeschlagen und das Rüstungsministerium Druck gemacht, hätten sich „als unwahr“ herausgestellt, so die Historiker. Stattdessen belegten Niederschriften über Besprechungen mit Vertretern des OKH, dass der Vorschlag für die Verlegung der Produktion von Vertretern der Firma selbst gekommen sei. „Nicht zuletzt die Versuche Alfried Krupps, den Standort Auschwitz im September 1943 für Krupp zu halten, nachdem das vonseiten des Heereswaffenamtes infrage gestellt worden war, unterstreichen, dass hier nicht aufgrund eines Drucks von außen gehandelt wurde.“ Zu diesem Zeitpunkt hätten bereits etwa 270 KZ-Häftlinge in Auschwitz für Krupp gearbeitet.

„Für beide Standorte, Auschwitz und Berthawerk, zeigen sich bei den Verantwortlichen Krupps keine Vorbehalte oder gar Skrupel bei der Frage nach dem Einsatz von KZ-Zwangsarbeitern. Das schließt Alfried Krupp ein, der erkennbar in beide Projekte involviert war“, heißt es in dem Bericht. Besonders deutlich werde dies in einem Schreiben aus dem Jahr 1942 von Krupp an die Nazi-Größe Albert Speer, in dem der Industrielle gezielt die Verfügbarkeit von „Strafjuden“ als Argument für den Bau des „Berthawerks“ in Niederschlesien genutzt habe. Insbesondere bei diesem Standort sei Krupp „bestens informiert“ gewesen. „Das gilt etwa für die Anzahl und den desolaten Gesundheitszustand der KZ-Häftlinge, aber auch für Verhandlungen über deren Einsatz zwischen Krupp-Vertretern und der SS. Diese Verhandlungen weisen nicht zuletzt aus, wie aktiv das Unternehmen beim Berthawerk versuchte, die Zahl der KZ-Zwangsarbeiter weiter zu erhöhen. Daneben aber muss Alfried Krupp die KZ-Insassen bei seinen Besuchen in Markstädt auch direkt wahrgenommen haben.“

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