Mülheim. Carpe Diem in Mülheim hatte drastischen Personalmangel. Nun wird die Pflegedokumentation ins Handy gesprochen. Ziel: Mehr Zeit für die Menschen.

Frau Achenbach hat heute wieder Schmerzen in den Armen. Lindernde Medikamente lehnt sie ab. Sie möchte lieber mit Massagen behandelt werden. Jasmin Nagelewski, Pflegeassistentin, sitzt neben der 89-Jährigen auf der Bettkante, hält ihre Hand und spricht diese Informationen in ihr Diensthandy. Automatisch werden sie in Text umgewandelt und gespeichert, in Frau Achenbachs virtueller Pflegeakte.

Ebenso funktioniert es, wenn Blutdruck oder Zuckerwerte gemessen, Tabletten gegeben, Trinkmengen oder das Körpergewicht dokumentiert werden: Das Pflegepersonal spricht die Daten ins Smartphone, wo sie übersetzt, der richtigen Kategorie zugeordnet und festgehalten werden. Nicht nur für Frau Achenbach, sondern für alle Bewohnerinnen und Bewohner im Mülheimer Senioren-Park Carpe Diem. Die Einrichtung an der Hansastraße setzt neuerdings die App „Voize“ ein, um die Pflegedokumentation zu vereinfachen. Auch KI (künstliche Intelligenz) kommt dabei zum Einsatz.

Mülheimer Senioren-Park Carpe Diem: Pflegedokumentation per App

Seit etwa zwei Monaten ist das gesamte Team mit Diensthandys ausgerüstet, mit denen man nicht telefonieren oder im Netz surfen, nur zielgerichtet arbeiten kann. Gewöhnungsbedürftig sei es gewesen, berichtet Jasmin Nagelewski, auch für die alten Menschen und deren Angehörige. „Die Bewohner haben sich gewundert: Was machen die denn jetzt mit dem Handy? Und ich selber war anfangs auch echt kritisch.“

Mittlerweile möchte sie nicht mehr auf „Voize“ verzichten. Es verschaffe ihr mehr Zeit für die persönliche Betreuung. „Gerade wenn es dem Bewohner nicht so gut geht, dann muss ich nicht mehr weggehen. Nicht mehr zum PC rennen“, sagt die Pflegeassistentin, die seit etwa vier Jahren bei Carpe Diem arbeitet. Überall im Haus hängen jetzt Plakate, die erklären, warum neuerdings alle Pflegenden mit Smartphones unterwegs sind.

Vorher wurden Notizen oft auf dem Unterarm gemacht

Wie es bislang lief, erklärt Pflegedienstleiter Daniel Schuster: Auf jedem Wohnbereich mit zehn bis zwölf Zimmern steht ein PC. Dort musste jede Versorgung eines Bewohners, jeder Messwert, jede Besonderheit detailliert eingetippt werden. „Man war eine bis zwei Stunden pro Schicht nur mit der Dokumentation beschäftigt.“ Zwischendurch wurden Notizen auf zahlreichen Zettelchen oder schlicht auf dem Unterarm gemacht. Nun sprechen die Pflegekräfte nur ins Smartphone, die App überträgt die Spracheingabe auf den Hauptrechner.

Das Pflegepersonal im Mülheimer Altenheim Carpe Diem arbeitet mit der KI-gestützten App „Voize“: Daten werden einfach ins Handy gesprochen und verarbeitet. So soll mehr Zeit für persönliche Betreuung bleiben.
Das Pflegepersonal im Mülheimer Altenheim Carpe Diem arbeitet mit der KI-gestützten App „Voize“: Daten werden einfach ins Handy gesprochen und verarbeitet. So soll mehr Zeit für persönliche Betreuung bleiben. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Dank KI soll „Voize“ auch lernfähig sein. Insbesondere Mitarbeitende, die die deutsche Sprache nicht perfekt beherrschen, hätten oft Schreibhemmungen, ergänzt der Pflegedienstleiter, oder würden sich mühselig mit Google-Übersetzer behelfen. Die neue App soll Dialekte oder Akzente verstehen, Spracheingaben automatisch korrigieren und zuordnen können. „Die Dokumentation hat sich bei uns um das Zwei- bis Dreifache erhöht.“

Neue Technik soll Druck aus dem Pflegealltag nehmen

Carpe Diem ist der erste Träger in Deutschland, der angekündigt hat, die „Voize“-App in allen seinen Senioreneinrichtungen einzuführen - insgesamt 35 Häusern. „Dass sich etwas in der Pflege ändern muss, ist klar ersichtlich“, heißt es in einer aktuellen Mitteilung des Unternehmens. „Der Fachkräftemangel und der steigende Druck im Pflegealltag sprechen für sich.“

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Der Senioren-Park in Mülheim-Speldorf war davon zuletzt besonders betroffen. Dort hatte die WTG-Behörde (Heimaufsicht) bei einer Prüfung im Oktober 2023 erhebliche Mängel festgestellt, insbesondere in der Personalausstattung, Pflege und sozialen Betreuung. Carpe Diem zog selber die Notbremse mit einem freiwilligen Belegungsstopp, der zum Jahresende wieder aufgehoben wurde. Seit Anfang 2024 hat das Haus eine neue Leiterin, Susanne van Megen, und Daniel Schuster als neuen Pflegedienstleiter, die die Probleme offensiv angehen wollen.

Nach Personal- und Pflegemängeln: Enger Austausch mit der Heimaufsicht

In den vergangenen Monaten habe es keine erneute Prüfung vor Ort gegeben, teilt die Mülheimer Heimaufsicht auf Anfrage mit. Man sei jedoch weiter in engem Kontakt: „Die WTG-Behörde steht im stetigen Austausch mit der Einrichtungsleitung bezüglich der personellen Ausstattung und der Belegung freier Plätze.“ Nach Angaben von Carpe Diem sind aktuell 67 der insgesamt 80 stationären Plätze belegt. „Wir haben auch Personal gewonnen“, ergänzt Susanne van Megen, so seien junge Pflegekräfte nach Abschluss ihrer Ausbildung geblieben. Auch über positive Rückmeldungen von Angehörigen freue man sich, die das Gefühl hätten, ihre Lieben würden hier gut betreut. „Die Stimmung hat sich deutlich gebessert“, so die Einrichtungsleiterin.

Dass das Pflegeunternehmen Carpe Diem nun flächendeckend in die sprachgesteuerte Dokumentation investiert, um den Mitarbeitenden den Alltag zu erleichtern, verleiht auch dem Mülheimer Standort Rückenwind und sorgt für positive Publicity. Die Einführung von „Voize“ findet landesweit viel Beachtung. Auch Fernsehteams waren schon im Pflegeheim an der Hansastraße zu Gast, um sich die Neuerung vorführen zu lassen.

Mülheimer Seniorendienste wollen ,Voize‘ ab 2025 testen

Nicht nur Carpe Diem hat erkannt, dass der Einsatz von KI die Arbeit in der Pflegebranche erleichtern kann. Auch die Mülheimer Seniorendienste, die in der Stadt drei Pflegeheime betreiben, planen den Einsatz entsprechender Systeme. Neben „Voize“ gibt es beispielsweise auch die Sprachdokumentation „Dexter“: Hier kann die Handy-App ergänzt werden um Lautsprecher (Smart Speaker), die in den Bewohnerzimmern installiert werden. „Beide Lösungen haben wir uns schon angesehen“, erklärt Alexander Keppers, Geschäftsführer der Mülheimer Seniorendienste. Diese Art von Unterstützung erscheine sinnvoll, weil Spracheingabe den Informationsgehalt der Pflegedokumentation erhöhe, die Arbeitsabläufe schneller und komfortabler würden.:

„,Voize‘ steht bei uns für das erste oder zweite Quartal 2025 auf der Agenda“, ergänzt Keppers. Schwerpunkt in diesem Jahr sei die KI-unterstützte Dienstplanung, die im dritten Quartal 2024 - nach zwei abgeschlossenen Pilotprojekten - regulär starten soll. „KI ist ein spannendes und lohnenswertes Thema für die Pflegebranche“, so der Chef der Mülheimer Seniorendienste.

Einrichtungsleiterin: „Bedienung ist kinderleicht“

Bei Carpe Diem scheint man rundum überzeugt zu sein von der neuen App. „Die Zeitersparnis ist gigantisch“, sagt die Einrichtungsleiterin, „die Bedienung kinderleicht. Wir wollen es nicht mehr missen.“ Vielmehr wäre es wünschenswert, das System weiter auszubauen, beispielsweise Daten direkt an den behandelnden Hausarzt zu übermitteln. Auch im Sozialen Dienst sei „Voize“ eine wertvolle Hilfe, ergänzt Susanne van Megen. Auch hier werde viel Dokumentationszeit gespart, die man besser nutzen könne, etwa für die Einzelbetreuung der alten Menschen.

Bewohnerin Frau Achenbach lebt seit etwa einem Jahr im Senioren-Park Carpe Diem und fühlt sich, wie sie sagt, im Großen und Ganzen gut betreut. Stellt sie schon eine Veränderung dank „Voize“ fest? Weniger Gerenne bei den Pflegekräften, mehr Ruhe. „Ein bisschen merkt man es schon“, sagt die 89-Jährige. „Es könnte aber auch daran liegen, dass der Sommer beginnt. Da sind alle entspannter.“

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