Mülheim. Um Platz für eine neue Kurzzeitpflege zu schaffen, mussten Demenzkranke in Mülheim ihre WGs verlassen. Nicht alle haben den Umzug gut verkraftet.

Am Seniorenheim Carpe Diem in Speldorf soll im Frühjahr eine solitäre Kurzzeitpflege eröffnen: 20 Plätze in einem separaten Bereich. Ein Angebot, das es sonst nirgends in Mülheim gibt. Die Not von Betroffenen und pflegenden Angehörige, die oft nur im weiteren Umkreis etwas finden, könnte die neue Abteilung lindern. Leidtragende seien jedoch die Bewohner zweier Demenz-WGs, meint eine Mülheimerin, deren Vater dort lebte - als er noch lebte.

Den alten Menschen, die teilweise über lange Jahre an der Hansastraße in Gemeinschaft gewohnt hätten, sei im Juni durch Carpe Diem gekündigt worden, ohne Begründung. Sie lebten in einem Neubau neben dem Pflegeheim in der ehemaligen Lederfabrik. „Dass in dem Gebäude eine Kurzzeitpflege entstehen soll, haben wir erst viel später erfahren“, sagt die Tochter.

Mülheimer Senioren-WGs aufgelöst: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“

Die Frau, die hier anonym bleiben möchte, war gesetzliche Betreuerin ihres Vaters, der im März 2021 in eine Wohngemeinschaft bei Carpe Diem in Speldorf gezogen war. Eine von zwei WGs, jeweils für maximal zehn Personen, die durch den hauseigenen ambulanten Pflegedienst betreut wurden. „Es ging ihm dort gut“, sagt die Mülheimerin, „er hat sich wohlgefühlt.“ Mitte Dezember ist ihr Vater verstorben, und sie hat den Eindruck, der plötzliche Umzug, die veränderte Umgebung hätten dazu beigetragen, dass er rapide abbaute. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“

Die Trauer der Tochter ist noch frisch. Der Zusammenhang, der sich ihr aufdrängt, kaum zu beweisen. Tatsache aber ist, dass die Kündigung des WG-Platzes durch Carpe Diem die Familie kalt erwischte und vor erhebliche Probleme stellte.

Miet- und Betreuungsvertrag wurde ohne Begründung gekündigt

Im Schreiben vom 26. Juni 2023, das dieser Redaktion vorliegt, heißt es in knappen Zeilen ohne jegliche Begründung, dass Miet- und Betreuungsvertrag für den demenzkranken Senior zum 30. September fristgerecht gekündigt werden. Alternativen, wo der Vater künftig leben könnte, werden nicht genannt, lediglich die Rufnummer des Mülheimer Carpe-Diem-Standortes, „zur Terminvereinbarung für die Wohnungsübergabe“.

Der Seniorenpark Carpe Diem in Mülheim-Speldorf: Im Neubau (re.) eröffnet bald eine Abteilung für Kurzzeitpflege. Den Bewohnern zweier WGs wurde dafür gekündigt.
Der Seniorenpark Carpe Diem in Mülheim-Speldorf: Im Neubau (re.) eröffnet bald eine Abteilung für Kurzzeitpflege. Den Bewohnern zweier WGs wurde dafür gekündigt. © Mülheim | STEFAN AREND

Die Tochter erklärt, sie habe telefonisch bei der Zentrale der Carpe-Diem-Gesellschaften in Wermelskirchen nachgefragt. Dort habe man sich für nicht zuständig erklärt und an die Einrichtungsleitung in Mülheim verwiesen. Auch dort habe sie zunächst keine befriedigende Auskunft erhalten können. Am 30. Juni sei eine Mail der Standortverwaltung an der Hansastraße eingegangen, mit folgendem Wortlaut: „Ich möchte Sie zudem darüber informieren, dass ich selbstverständlich Ihre Angehörigen unverbindlich auf unsere Warteliste für einen eventuellen Umzug ins Hauptgebäude (vollstationäre Pflege) gesetzt habe.“ Zusätzlich bekam sie eine Übersicht umliegender Demenz-WGs und Pflegeheime.

Carpe Diem: Neu eröffnete Wohngemeinschaft konnte Klienten aufnehmen

Carpe Diem bestätigt auf Anfrage, dass die beiden WGs Ende September 2023 geschlossen wurden. Zuletzt hätten dort noch 13 Menschen gelebt, erklärt Volker Paikert aus dem Interim-Leitungsteam des deutschlandweit tätigen Pflegeunternehmens. Aus Kapazitätsgründen habe man nur eine Person im vollstationären Bereich des Hauses aufnehmen können.
„Dankenswerterweise hat sich ein anderer Träger in Mülheim gefunden, der in seine zeitgleich eröffnete Wohngemeinschaft acht Klienten aufnehmen konnte“, ergänzt Paikert. Auch einige Mitarbeitende seien dorthin gewechselt, Teammitglieder hätten die Senioren in der neuen WG besucht. „Über weitere Informationen zu den Bewohnern verfügen wir nicht.“

Die meisten Betroffenen sind nach der Kündigung durch Carpe Diem in eine WG des Seniorendienstes Katharina gezogen, die am 15. September im ehemaligen Gartenhotel Luisental neu eröffnet hat. Nach Auskunft von Gabriele Panz, Inhaberin des Seniorendienstes, waren es sogar neun Personen. Sie seien bevorzugt aufgenommen worden, „sodass sie weiterhin in gewohnter Gemeinschaft leben können“, berichtet Panz, deren Pflegedienst insgesamt acht Demenz-WGs betreut.

Im ehemaligen Gartenhotel Luisental in Mülheim hat der Seniorendienst Katharina vor vier Monaten eine neue Wohngemeinschaft eröffnet.
Im ehemaligen Gartenhotel Luisental in Mülheim hat der Seniorendienst Katharina vor vier Monaten eine neue Wohngemeinschaft eröffnet. © WAZ | Annette Lehmann

Senioren leben jetzt im ehemaligen Hotel Luisental

Im früheren Hotelgebäude an der Trooststraße hätte auch ihr Vater ein Zimmer bekommen können, sagt die betroffene Mülheimerin. „Es hat aus verschiedenen Gründen nicht geklappt, unter anderem aus finanziellen Gründen.“ Die Zimmer seien dort wesentlich größer, die Unterbringung wäre teurer geworden. Ihr Vater, bislang Selbstzahler, hätte Unterstützung beantragen müssen. Die gesamte Situation brachte die Familie offenbar an Grenzen. „Wenn man etwas mehr Zeit gehabt hätte, hätte es vielleicht gepasst.“

Stattdessen habe Carpe Diem der Familie einen vollstationären Pflegeplatz an der Hansastraße angeboten. „Wir mussten uns innerhalb eines Tages entscheiden.“ Sie sagten zu, um den Vater in einer halbwegs gewohnten Umgebung zu belassen. „Er ist trotzdem nicht gut zurecht gekommen, obwohl sich das Team sehr bemüht hat. Es ist ein Riesenunterschied, ob man in einer WG lebt, wo die Leute intensiv betreut und betüddelt werden, den ganzen Tag mitenander verbringen, oder vollstationär, mit viel weniger Personal.“

Vater kam im Pflegeheim nicht gut zurecht, „obwohl sich das Team sehr bemüht hat“

Nach dem Umzug Anfang August habe ihr Vater oft geäußert, dass ihm die Heimunterbringung nicht gefällt. Vor allem aber sei er immer schwächer geworden, schildert die Tochter, schnell vom Rollator in den Rollstuhl gewechselt. „Wir haben Schübe bemerkt, dass er immer weniger konnte. Er hatte auch keinen Appetit mehr.“ Mitte Dezember sei ihr Vater verstorben, friedlich eingeschlafen. Vielleicht wäre das auch ohne den Umzug passiert, niemand weiß es. Doch die Tochter sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Vater so schnell abgebaut hätte, wenn er in der WG geblieben wäre.“

Seniorendienst-Chefin: Umzug kann Demenzkranke sehr belasten

Dass ein Umzug Demenzkranke schwer belasten kann, weiß auch Seniorendienst-Chefin Gabriele Panz aus langjähriger Berufserfahrung. Sie sagt: „Selbst wenn sie ins Krankenhaus kommen, ist es sehr schwierig für sie.“ Die ehemaligen Bewohner der Carpe-Diem-WGs hätten den Wechsel der Hauses unterschiedlich gut verkraftet - „eine Patientin hat der Umzug einen Schub gekostet. Er kam ja auch sehr kurzfristig.“

Die grundsätzliche Entscheidung, die WGs an der Hansastraße für die geplante Kurzzeitpflege aufzugeben, begründet Carpe Diem so: „Auf Grundlage der Pflegebedarfsplanung des Landes und der Stadt Mülheim hat sich unser Träger neu aufgestellt. Der Bedarf an planbaren Kurzzeitpflegeangeboten ist landesweit immens.“ Man sei der Stadt Mülheim sehr dankbar - das neue Angebot sei von allen beteiligten Ämtern sehr unterstützt und positiv begleitet worden.

Pflegemanagement der Stadt Mülheim: Ratsuchende Angehörige wurden unterstützt

Die städtische Heimaufsicht teilt auf Anfrage mit, Carpe Diem habe sie Ende Juni 2023 über die fristgerechten Kündigungen für die WG-Nutzer und Nutzerinnen frühestens zum 30. September informiert. „Die Mitarbeitenden des Pflegemanagements (WTG-Behörde, Senioren- und Wohnberatung, Pflegestützpunkt) standen ratsuchenden Angehörigen (...) bei der Vermittlung geeigneter künftiger Versorgungsformen zur Seite.“ Im Rahmen der Umzüge habe „bei Bedarf ein aktiver Austausch“ stattgefunden, sowohl mit der Einrichtungsleitung von Carpe Diem als auch mit den Häusern und Pflegediensten, die die Senioren aufgenommen haben.

Was der Tochter noch wichtig ist: Ihre Schilderung sei „kein Vorwurf gegenüber den Leuten am Standort in Speldorf“. Die Verwaltung dort habe die Familie sehr unterstützt. Dem Team vor Ort habe es offensichtlich ebenfalls Leid getan, dass die WGs aufgelöst wurden.

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