Mülheim. Vor der Einschulung gibt es die Eignungsuntersuchung. In Mülheim schnitten die Kinder teils extrem schlecht ab. Was eine Medizinerin dazu sagt.
Die Schlagzeilen sind hinlänglich bekannt: Kinder werden immer unkonzentrierter, dicker und unterm Strich ungesünder. Im Basisgesundheitsbericht, den die Stadt Mülheim im März 2024 erstmals herausgegeben hat, wird dieser Eindruck bestätigt – zumindest in großen Teilen. Zwar liegen wegen der Coronapandemie für die Einschulungsjahrgänge 2020 und 2021 keine Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen in Nordrhein-Westfalen vor, dennoch wird ein bedenklicher Trend in sämtlichen Bereichen deutlich. Erst jüngst waren die teils erschreckenden Ergebnisse im Bildungsausschuss thematisiert worden, verbunden mit der Frage: Wie kann der Entwicklung Einhalt geboten werden?
1511 Kinder sind im Jahr 2019 in Mülheim auf ihre Eignung für die Teilnahme am schulischen Alltag untersucht worden. Dabei wird nach dem sogenannten Sozialpädiatrischen Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen, kurz SOPESS, vorgegangen. Dabei werden negative Auffälligkeiten in verschiedenen Teilbereichen untersucht.
Körperkoordination
Die Körperkoordination ist, so heißt es im Basisgesundheitsbericht, für den sozial-emotionalen Status und die soziale Integration von Kindern in die Altersgruppe von besonderer Bedeutung. Geprüft wird sie bei der Eingangsuntersuchung durch das seitliche beidbeinige Hin- und Herspringen. Hier erzielten die Mülheimer Kinder ein Ergebnis, das unter dem NRW-Schnitt, in diesem Falle also positiv ist.
Sprachkompetenz
Im letzten Drittel des Landesvergleichs landen Mülheims angehende Schulkinder bei der Sprachkompetenz. So ist der Anteil an Auffälligkeiten in der altersgerechten Sprachkompetenz von rund 22 Prozent in 2016 auf rund 38 Prozent in 2019 angestiegen und liegt somit über dem NRW-Durchschnitt von knapp 30 Prozent.
Auffälligkeiten in der Sprachkompetenz sind dann gegeben, wenn die einzuschulenden Kinder mindestens ein auffälliges Ergebnis in den Bereichen „Pluralbildung“, „Präpositionen erkennen“ oder „Pseudowörter nachsprechen“ zeigen. „Hier zeigt sich der dringende Bedarf, Maßnahmen zur Förderung der kindlichen Sprachkompetenz weiterzuentwickeln“, lautet die Bilanz im Bericht.
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Erkennen und Zeichnen von Objekten und Formen
Nahezu deckungsgleich mit dem Landesschnitt sind die Ergebnisse beim Erkennen und Zeichnen von Objekten und Formen. „Während der Anteil der Auffälligkeiten in diesem Bereich in den Jahren 2010 bis 2017 unter dem NRW-Durchschnitt liegt, entspricht er dem Durchschnitt in den Jahren 2018 und 2019 nahezu“, heißt es in Basisgesundheitsbericht.
Umgang mit Zahlen und Mengen
Ähnlich sieht es im mathematischen Bereich aus: Während die Mülheimer Werte von 2013 bis 1026 unwesentlich über dem NRW-Schnitt lagen, entsprechen die Häufigkeiten der Auffälligkeiten seit 2017 nahezu dem NRW-Niveau.
Auditive Merkfähigkeit
Ganz anders sieht es hingegen bei der auditiven Merkfähigkeit aus. Damit ist die Fähigkeit gemeint, gehörte Informationen aufzunehmen und einzuprägen. Von 2017 (rund elf Prozent mit Auffälligkeiten) hat sich der Wert in den Folgejahren (2018: rund 23 Prozent, 2019: rund 22 Prozent) verdoppelt. Zum Vergleich: 2010 lag der Wert der auffälligen Kinder noch bei etwas über sechs Prozent. Im NRW-Schnitt lag der Wert sowohl 2018 als auch 2019 bei um die zehn Prozent. Besonders besorgniserregend ist, dass Kinder bei der auditiven Merkfähigkeit landesweit in keiner anderen Stadt schlechter abgeschnitten haben als in Mülheim.
„Es besteht somit ein akuter Bedarf, Maßnahmen zur Gegensteuerung zu entwickeln“, heißt es in dem Basisgesundheitsbericht. Und auch im Bildungsausschuss griff Dr. Frank Pisani, Leiter des Amtes für Gesundheit und Hygiene, die Thematik auf. „Die Gründe für Auffälligkeiten sind multifaktoriell, es bedarf weiterer Untersuchungen, um Handlungsmaßnahmen abzuleiten“, so der Amtsleiter. In dem „Arbeitskreis Kindergesundheit“ sollen genau diese entwickelt werden.
Mülheimer Medizinerin sieht Risiko für Chancenungleichheit
Eine, die Teil des Arbeitskreises ist und die Schuleingangsuntersuchungen aus nächster Nähe kennt, ist eine Kinderärztin, die anonym bleiben möchte. Sie ist beim Kinder- und Jugendärztlichen Dienst tätig und führt das ganze Jahr über Untersuchungen an den Schulkindern von morgen durch. „Es ist ein Plateau erreicht“, schildert die Medizinerin ihre Sicht der Dinge. Die Entwicklung sei ein vielerlei Sicht bedenklich, würde aber nicht merklich schlechter, als es die aktuellsten Daten aus 2019 zeigten. Einschränkend müsse erwähnt werden, dass in den Coronajahren längst nicht alle eingeschulten Kinder gesehen worden sind. Somit sei die Entwicklung nach 2019 bis 2022 nur bedingt beurteilbar. Es zeichne sich zumindest keine weitere dramatische Verschlechterung ab.
„Man muss aber auch dazu sagen, dass wir zwar ganz eindeutige Zahlen haben, vieles sich aber auch gar nicht quantifizieren lässt, was wir hier beobachten“, so die Ärztin. Beim Verhalten zeigen sich zum Teil vermehrt Auffälligkeiten bezüglich Motivation und Konzentrationsbereitschaft. „Wir haben hier auch sehr viele fitte Kinder“, sagt die Medizinerin. „Aber eben auch Kinder, die sich nicht nur in einem Bereich schwertun, sondern gleich in mehreren.“ Während eine Schuleingangsuntersuchung bei einem fitten Kind etwa 35 Minuten dauere, könne sie sich bei einigen Kindern auf bis zu anderthalb Stunden erstrecken.
Das Hauptproblem sieht die Kinderärztin, die in diesem Jahr mit ihrem Team rund 2000 Kinder – deutlich mehr als noch vor fünf Jahren – untersucht, in den sprachlichen Defiziten. „Es ist besorgniserregend. Das Sprachniveau ist deutlich gesunken und das gilt auch für Kinder, die in den Kindergarten gehen.“ Bei zugezogenen Kindern sei die Ausgangslage eine andere, dennoch: „Es entsteht von Tag eins an ein Nachteil und der lässt sich nicht immer ohne Weiteres aufholen.“
Jedes Dritte angehende Schulkind in Mülheim sieht nicht gut
Zwei weitere Faktoren, die im Basisgesundheitsbericht als Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen beleuchtet werden, sind die herabgesetzte Sehschärfe und Adipositas. Während Übergewicht häufig offensichtlich zu erkennen ist – hier liegt Mülheim im Landesschnitt –, bliebe die mangelhafte Sehkraft oft unerkannt oder unzureichend behandelt. Bei knapp 30 Prozent der Schuleingangsuntersuchungen konnten in Mülheim ebendiese Mängel festgestellt werden, also ist fast jedes dritte Kind betroffen. Im NRW-Vergleich gibt es nur drei Kommunen, die einen noch höheren Anteil aufweisen.
„Bei der Vielzahl der Auffälligkeiten sollte verstärkt Aufklärungsarbeit geleistet werden, indem die Notwendigkeit einer frühen augenärztlichen Behandlung deutlich gemacht und auf Präventivmaßnahmen (Aktivitäten im Freien und weniger Zeit vor Bildschirmen) hingewiesen wird“, heißt es im Basisgesundheitsbericht. Auch das wird wohl eine der Maßnahmen sein, die der „Arbeitskreis Kindergesundheit“ zeitnah angehen wird.
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