Mülheim/Oberhausen. Nicht dick: krank. Ute Münch leidet an Lipödem und sucht andere Betroffene aus Mülheim oder Oberhausen. Einer OP will sie sich nicht unterziehen.
Kniestrümpfe, darüber Leggins bis zum Rippenbogen, eine Bolerojacke, Handschuhe, alles aus flachgestricktem Kompressionsmaterial - das ist die Basisbekleidung von Ute Münch. 365 Tage im Jahr, mindestens zwölf Stunden täglich, bei minus zehn und bei plus 38 Grad. Sie erlaubt sich nur minimale Ausnahmen, steigt etwa beim wöchentlichen Aquafitness mit nackten Armen und Beinen ins Becken. Und die Handschuhe trägt sie nicht am Arbeitsplatz.
Ute Münch leitet das OP-Pflegeteam am Mülheimer St. Marien-Hospital. Sie ist an Lipödem erkrankt, einer chronischen Fettverteilungsstörung, die fast nur Frauen betrifft. Bei ihr befindet sich die Krankheit im dritten Stadium, ist maximal fortgeschritten. Im Oktober hat die 46-Jährige, die in Oberhausen wohnt, eine Selbsthilfegruppe gegründet. Sie will andere aufbauen, aufklären, ermutigen, für das zu kämpfen, was ihnen zusteht. „Ich wurde mein ganzes Leben lang in die Schublade ,klein und dick‘ gesteckt“, sagt die Pflegefachfrau. „Auch Ärzte müssen verstehen, worum es geht.“
Selbsthilfegruppe für Lipödem-Betroffene in Mülheim
Die Krankheit ist erblich, sie wird wohl durch das weibliche Hormon Östrogen ausgelöst, entsteht meist in der Pubertät, verschlimmert sich oft in der Schwangerschaft. Ute Münch beschreibt, wie ihre Beine sich massiv veränderten, als sie 14, 15 war. Sie machte nach der Schule erst eine Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten, später eine zweite in der Krankenpflege, qualifizierte sich weiter. Sie sagt: „Ich bin vom Fach. Ich habe immer im medizinischen Bereich gearbeitet. Aber bis ich 36 Jahre alt war, wusste ich nicht, dass ich eine Krankheit habe.“
Statt Aufklärung habe sie Ratschläge bekommen, wohlmeinend bis vorwurfsvoll, doch wenig hilfreich. „Wenn ich für jeden Spruch, ich solle einfach mehr Sport machen und weniger essen, einen Euro bekommen hätte, wäre ich heute Millionärin“, sagt die 46-Jährige.
Krankheit wurde bei Ute Münch lange nicht erkannt und nicht behandelt
Den richtigen Blick habe eine Physiotherapeutin gehabt, in einer Reha, die sie wegen ihres Asthmas absolvierte. Eine Fachärztin für Lymphologie habe dann das Lipödem erkannt und benannt. „Die Diagnose war ein Schock“, sagt Ute Münch, „und eine Befreiung, nach einem langen, traurigen Weg.“ Weil sie so lange nicht adäquat behandelt wurde, habe sich auch ein Lymphödem entwickelt: Flüssigkeit sammelt sich im Körpergewebe, besonders in den Armen und Beinen. Das Lipödem verursacht ein starkes Spannungsgefühl, Schmerzen. Ute Münch beschreibt das Gefühl, Betonklötze an den Beinen zu schleppen. „Treppen sind mein größter Feind.“
Lipödem im dritten Stadium, das ist nicht mehr zu vergleichen mit Cellulite oder einfachem Übergewicht. Das Gewebe hat sich massiv verändert, verhärtet, deformiert, die Haut bildet großlappige Taschen. Sehr viele Frauen lassen sich spätestens dann operieren, unterziehen sich einer Liposuktion. Dabei wird literweise Fett abgesaugt aus den betroffenen Körperbereichen. Erst im dritten Stadium, und wenn weitere Voraussetzungen erfüllt sind, übernehmen gesetzliche Krankenkassen die Kosten für eine Operation.
Mülheimer Lipoclinic: Jährlich etwa 2000 Operationen, Tendenz steigend
Eine überregional bekannte Anlaufstelle ist die Lipoclinic Dr. Heck in Mülheim-Raadt. Jährlich würden hier etwa 2000 Operationen durchgeführt, erklärt Geschäftsführerin Claudia Gehrmann auf Anfrage, „Tendenz steigend“, es kommen Frauen aus drei Generationen. Die Kostenübernahme müsse stets individuell mit der Krankenkasse geklärt werden, ergänzt Gehrmann. Viele Patientinnen zahlen den Eingriff selber, können die Aufwendungen laut Entscheidung des Bundesfinanzhofes immerhin steuerlich absetzen.
Um den Betroffenen das Leben zu erleichtern, wären mehr Sachkenntnis und Akzeptanz des Lipödems als Krankheit in der Gesellschaft wie auch in den Ärztekreisen wünschenswert, meint die Geschäftsführerin der Lipoclinic, „damit Hand in Hand befundet und therapiert wird“. Mehr Aufklärung sollte erfolgen, „um Stigmatisierung und Bodyshaming der Frauen zu mildern“.
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Es gibt etliche Krankenhäuser und Praxen in der Region, in denen Patientinnen mit Lipödem operiert werden. Ute Münch, die seit Teenagerzeiten betroffen ist, spricht von „unzähligen Kliniken in NRW“, deren Qualität sehr unterschiedlich sei. Sie sagt: „Ich bin nicht grundsätzlich gegen OPs.“ Doch sie habe sich für einen anderen Weg entschieden: konservative Therapie. Zum einen befürchte sie, dass nach den belastenden Eingriffen, von denen sie mehrere bräuchte, das Lipödem wiederkehrt. Zum anderen müsse sie ohnehin lebenslang Kompressionswäsche tragen, wegen des Lymphödems, an dem sie ebenfalls leidet.
Konservative Therapie mit Kompressionskleidung, Lymphdrainage, strenger Ernährung
Zwei Mal wöchentlich bekommt sie Lymphdrainage, alle zwei Jahre eine Reha. Abends legt sie sich für eine Stunde in einen Lymphomaten - ein Kompressions-Therapiegerät, das Beine und Bauch wie eine riesige Hose bedeckt. Wenn Ute Münch verreist, sie liebt Städtetouren, nimmt sie all das mit. „Zwei große Taschen nur mit Kompression.“ Es ist lästig, aber sie will nicht auf alles Schöne verzichten. „Die Schmerzen sind gleich. Ob ich zu Hause bleibe und mit der Krankheit hadere, oder ob ich versuche, trotzdem ein lebenswertes Leben zu haben.“ Ihr Glaube gebe ihr viel Halt, die Unterstützung ihrer Eltern, das Verständnis guter Freundinnen.
Auf dieser Basis kann sie die Belastungen neben einem Vollzeitjob meistern, ihre Krankheit annehmen. „Die Kompressionskleidung gehört zu mir wie meine Unterwäsche. Im Sommer wie im Winter. Es gibt keine Alternative, ich habe keine Wahl.“ Die größte Einschränkung in ihrem Leben sei eine andere, sagt die 46-Jährige: „Ich kann nicht so essen, wie ich will, obwohl ich aussehe, als würde ich mich nur von Fastfood ernähren.“ Sie esse kohlenhydratarm, halte sich streng an drei Mahlzeiten pro Tag, koche jeden Abend frisch.
„Gesellschaft sieht mich nur als übergewichtige Frau“
Ein großes Problem sei, in der Öffentlichkeit zu essen, erst recht im Schnellrestaurant, was sie äußerst selten tut. Dann spürt sie abwertende Blicke. „Die Gesellschaft sieht mich halt nur als stark übergewichtige Frau.“
„Nicht dick, sondern krank!“ - so hieß eine Veranstaltung für Betroffene, mit der Ute Münch im Mai 2023 erstmals an die Öffentlichkeit ging. Daraus entstand die Selbsthilfegruppe, die sich im St. Marien-Hospital Mülheim trifft. Etwa zwölf Frauen sind aktuell dabei, die Gruppe wächst, und das ist ganz im Sinne von Ute Münch. Die Leidensgeschichten seien ähnlich, „ich freue mich jedes Mal sehr auf unseren Austausch.“
Ab Mitte März ist die Selbsthilfegruppe über eine eigene Mailadresse erreichbar: lipoedem-shg@contilia.de.
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