Mülheim. Schmerzen, Übelkeit, Muskelschwäche: Ein seltener Gendefekt und die weltweite Suche nach Hilfe beherrschen das Leben von Hannah (23) aus Mülheim.
Hannah ist kürzlich 23 geworden. Ein Alter, in dem alles möglich scheint. Doch nicht für sie. Wenn die junge Frau Städte bereist, dann nur, um dort medizinische Spezialisten aufzusuchen oder Krankenhäuser. Zuletzt hat sie Mailkontakt zu einem Professor an der Universität von Otago/Neuseeland aufgenommen - auf der Suche nach Hilfe. Die Mülheimerin ist von einer seltenen Erbkrankheit betroffen, die ihren Alltag, ihre Gedanken, ihr Leben beherrscht.
„Frau ... leidet an einem FLNA-Mangel“, dies hat ihr ein Kölner Facharzt für Humangenetik im Spätsommer 2022 bescheinigt, „einer Erbkrankheit mit sehr variabler Ausprägung.“ Ein bestimmtes Protein, Filamin A, ist aufgrund einer Genmutation in ihrem Körper nicht in ausreichender Menge vorhanden. „Eine Heilung oder spezifische Therapie steht nicht zur Verfügung“, schreibt der Experte. Behandelt würden nur einzelne Symptome, Beschwerden. Doch diese sind vielfältig. Und Hannah fühlt sich oft falsch beraten, mit ihren Problemen nicht ernst genommen.
Mülheimerin berichtet von Dauerschmerz und Gewichtsverlust
Mitte Dezember meldete sie sich erstmals bei dieser Redaktion, verärgert, frustriert. Sie berichtete, dass sie kaum noch essen und trinken könne „ohne wirklich große Schmerzen (durch den Gendefekt)“. Sie sei sehr geschwächt, habe an Gewicht verloren, ihr Hausarzt wisse nicht mehr weiter. Zunächst habe sie die Notaufnahme eines Mülheimer Krankenhaus aufgesucht, sei von dort an die KV-Praxis verwiesen worden, wo man ihr geraten habe, einfach mehr zu essen und kleine zu Schlucke trinken. Nach einer Notfalleinweisung durch ihren Hausarzt hätten sie dann drei Unikliniken im Umkreis aus verschiedenen Gründen nicht aufnehmen oder ihr nicht helfen können, berichtete Hannah. „Dank dieses Systems habe ich seit zwei Wochen starke Schmerzen und muss mich trotzdem zum Essen zwingen“, klagte sie, „weil mir selbst die Krankenhäuser nicht helfen.“
Eine Woche später nimmt das städtische Krankenhaus in Solingen sie auf, nachdem sie etliche Kliniken in NRW abtelefoniert habe, berichtet Hannah. Sie kommt auf die gastroenterologische Station, wird „aufgepäppelt und am Leben gehalten“, schildert die 23-Jährige im Videotelefonat aus dem Krankenzimmer. Sie beschreibt ihre Beschwerden als „dumpfen Dauerschmerz mit Übelkeit“. Nach etwa einer Woche wird sie nach Hause entlassen.
23-Jährige läuft an Krücken oder sitzt im Rollstuhl
Als wir uns Anfang Januar in einem Mülheimer Innenstadt-Café treffen, geht Hannah an Krücken. Orthopädische Probleme hätten als Erstes auf eine Erkrankung hingedeutet, erzählt sie. Ihre Gelenke seien immer hypermobil gewesen, überbeweglich, mehrfach sei ihre Kniescheibe herausgesprungen. Inzwischen könne sie nicht mehr längere Zeit laufen oder stehen. Eine Physiotherapeutin habe zu Gehhilfen geraten, teilweise benutze sie den Rollstuhl. Folge des Gendefektes?
Der Kölner Humangenetiker, der damals die Diagnose bescheinigte, listet in seinem Bericht „typische, mögliche Merkmale“ eines FLNA-Mangels auf, so unter anderem: angeborene Herzfehlbildungen, Bluthochdruck, Asthma, chronische Bronchitis, Mobilitätsstörungen des Magen-Darmtraktes, Hypermobilität der Gelenke oder Anomalie der Blutplättchen. Männliche Patienten seien meist deutlich stärker beeinträchtigt. Es gebe weibliche Betroffene ganz ohne klinische Beschwerden. Hannah ist überzeugt, dass die Krankheit ihre Muskeln schon schwer geschädigt, teilweise abgebaut habe.
Ausbildung zur Fachinformatikerin im Homeoffice
Ihr Alltag ist mühsam. Nach dem Abitur begann sie erst ein Studium an der Hochschule Ruhr West, angewandte Informatik. Aktuell mache sie eine Ausbildung zur Fachinformatikerin bei einem großen Mülheimer Unternehmen, das ihr Homeoffice ermögliche, sie generell sehr unterstütze, sagt die junge Frau. Vom Besuch des Berufskollegs sei sie befreit worden. Nach dem, was sie bisher selbst über ihre seltene Krankheit recherchiert habe, lasse sich der Muskelabbau nicht mehr rückgängig machen, allenfalls aufhalten, „indem man den schmalen Grat zwischen Schonung und Aktivität findet“.
Welcher Experte, welche Expertin vor Ort kennt sich mit FLNA-Defizienz aus? Wer kann Hannahs Schilderungen fachlich einordnen? Anfragen dieser Redaktion an die beiden Mülheimer Krankenhäuser bleiben erfolglos: Leider könne man nicht weiterhelfen, heißt es dort.
Mülheimerin vernetzt sich auf Facebook mit Betroffenen aus aller Welt
Die gesundheitlichen Probleme der 23-Jährigen scheinen komplex zu sein. Unter anderem wurden bei ihr ADHS diagnostiziert und depressive Verstimmungen. Sie nehme schon seit längerer Zeit verschiedene Medikamente, berichtet sie, auch Schmerzmittel, „das ist in der aktuellen Situation alles nötig“. Sie ist über eine Facebook-Gruppe mit Menschen vernetzt, die ebenfalls unter einer FLNA-Genmutation leiden. Die geschlossene Gruppe hat knapp 80 Mitglieder, Betroffene oder auch Angehörige aus aller Welt. Aus Deutschland sei außer ihr niemand dabei, sagt Hannah, „bislang habe ich nur eine Frau aus der Schweiz gefunden“.
Zuletzt hoffte, sie, dass man ihr in Hamburg helfen kann, im Israelitischen Krankenhaus, das auf Erkrankungen der inneren Organe spezialisiert ist. „Bundesweit führend sind wir in der Diagnostik chronischer Verdauungsbeschwerden unklarer Ursache“, heißt es auf der klinikeigenen Website. Fünf Tage war Hannah dort stationär untergebracht, bekam Antibiotika, um eine Fehlbesiedlung des Dünndarms zu behandeln, die dort diagnostiziert wurde. Auf Anraten ihres Hausarztes wurde ihr außerdem in einem Mülheimer Krankenhaus ein Port eingesetzt, für die Flüssigkeitszufuhr.
Die Lösung, nach der sie großräumig sucht, ist das nicht. Hannah beklagt, dass ihre Hilferufe nicht so ernst genommen werden, wie sie es sich wünscht. „Ganz viele Leute halten meine Beschwerden für psychosomatisch“, sagt sie. Oder für eine Begleiterscheinung all der Medikamente, die sie einnimmt. Momentan ist die junge Frau ratlos. „Ich weiß leider noch nicht genau, wie es jetzt weitergeht.“
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