Mülheim/Essen. Drei Jahre lang haben Behörden gegen ein mutmaßlich rechtes Netzwerk bei der Polizei ermittelt. Die Staatsanwältin zieht nun eine Zwischenbilanz.

Am Anfang steht ein schlimmer Verdacht: Gibt es ein rechtes oder gar rechtsextremes Netzwerk bei der Polizei in Essen und Mülheim - und hier vor allem unter den Beamten, die in der Wache an der Von-Bock-Straße ihren Dienst versehen? Immenser politischer Druck baut sich auf, mit enormem Aufwand versuchen die Ermittlungsbehörden, den mutmaßlichen braunen Sumpf trockenzulegen. Anfang September 2020 ist die konspirative Truppe bei der Polizei aufgeflogen. Drei Jahre später fällt die Bilanz aus strafrechtlicher Sicht überschaubar aus. Am Ende stehen zahlreiche Strafbefehle - und eine einzige Anklage, wegen ganz anders gelagerter Taten.

Die Anklage

Aus strafrechtlicher Sicht betrachtet ist das der schwerwiegendste Fall: Die Staatsanwaltschaft hat einen heute 43-jährigen Polizisten angeklagt, der früher bei der Leitstelle im Polizeipräsidium (PP) Essen/Mülheim gearbeitet hat. In fünf Fällen soll der Essener Gewaltvideos in Nachrichten über WhatsApp weitergeleitet haben. In insgesamt 75 Fällen soll der Mann zwischen Mai 2017 und Ende August 2020 Dienstgeheimnisse verletzt haben.

Unter anderem soll er Informationen aus polizeilichen Abfragesystemen wie persönliche Daten oder Halterdaten von Kennzeichen an Bekannte weitergegeben haben. Außerdem soll er auch Details zu Einsätzen der Polizei verraten haben - offenbar getrieben aus Geltungssucht. Der 43-Jährige ist vor dem Schöffengericht angeklagt. Ihm könnte im Fall einer Verurteilung sogar eine Freiheitsstrafe drohen.

Die Wache an der Von-Bock-Straße in Mülheim: Hier waren die beschuldigten Polizisten im Dienst, die mit rechten Chats bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hatten.s
Die Wache an der Von-Bock-Straße in Mülheim: Hier waren die beschuldigten Polizisten im Dienst, die mit rechten Chats bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hatten.s © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Der Ausgangspunkt

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Im Sommer 2020 nimmt die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen einen Polizisten des PP Essen auf. Es geht um den Vorwurf des Geheimnisverrats. Der Mann soll Dienstgeheimnisse an einen Journalisten weitergereicht haben. Das Mobiltelefon des Polizisten wird ausgewertet und dabei stoßen die Ermittler auf eine erste WhatsApp-Gruppe mit dem Namen „Alpha-Team“.

In der tauschen sich Mülheimer Beamte aus, die sich in der Freizeit zum gemeinsamen Kegeln oder zu Ausflügen treffen, teilen und verschicken geschmacklose Bilder und Texte. „Es war auf den ersten Blick erkennbar“, sagt die zuständige Staatsanwältin Christiane Neiseke, „dass dort in großem Umfang ausländerfeindliches und rechtsgerichtetes Material vorkam.“ Hinzu kommen Bilder, Videos und Audiodateien, die volksverhetzende Inhalte und Gewaltdarstellungen zeigen.

15 Mitglieder hat das „Alpha Team“ in der Spitze. Später entdecken die Ermittler noch eine weitere WhatsApp-Gruppe. Sie trägt den Namen „Kunta Kinte“ mit in der Spitze 13 Mitgliedern. Zwischen beiden gibt es personelle Überschneidungen. Tage später rücken Beamte des aus Neutralitätsgründen ermittelnden Polizeipräsidiums Bochum mit Durchsuchungsbeschlüssen bei ihren Mülheimer Kollegen an und nehmen alles an IT-Asservaten mit, was sie finden können. Sogar eine Playstation wird einkassiert.

Die Staatsanwältin

Christiane Neiseke hat den Komplex im September 2020 bei der Staatsanwaltschaft Duisburg übernommen. Erst mal für zwei Wochen sollte sie dafür abgestellt werden. Es sind zweieinhalb Jahre geworden, in denen sich die heute 41-Jährige nahezu täglich mit dem Fall befasst hat. Zu den Polizisten im PP Bochum habe sie „beinahe eine Standleitung“ gehabt, erzählt sie. Bis zu 140 Beamte seien für die sogenannte besondere Aufbauorganisation, die unter dem Namen „Janus“ arbeitete, abgestellt worden. Zwölf weitere Präsidien halfen mit Personal auf.

Die BAO „Janus“ war teilweise die zweitgrößte in NRW - nach der BAO „Berg“ beim PP Köln, die bundesweit gegen Kinderpornografie vorging. „Wir wussten ja nicht, in was für ein Wespennest wir stoßen würden, wohin die Reise geht“, sagt Neiseke, „aber was wir gesehen haben, war ein Anlass zur Sorge.“ Das erkläre auch den immensen Aufwand: „Wir wollten lückenlos aufklären, bis in die letzte Nachricht hinein.“ Neiseke ist inzwischen zur Generalstaatsanwaltschaft nach Düsseldorf gewechselt. Die letzten Verfahren hat eine Nachfolgerin für politische Strafsachen in Duisburg übernommen.

Christiane Neiseke hat in dem Komplex zweieinhalb Jahre ermitteln lassen. Inzwischen arbeitet sie bei der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf.
Christiane Neiseke hat in dem Komplex zweieinhalb Jahre ermitteln lassen. Inzwischen arbeitet sie bei der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf. © Funke | Stefan Kober

Das Ausmaß

Gegen 26 Verdächtige laufen in den drei Jahren Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft. 25 von ihnen, allesamt Männer, stammen aus dem Umfeld der WhatsApp-Gruppen. Hinzu kommt eine Frau, ebenfalls Polizistin, die die Lebensgefährtin eines der beschuldigten Beamten ist. Zur Hälfte leben die Verdächtigen in Essen, zu einem Drittel in Mülheim, die übrigen kommen aus Velbert, Oberhausen und Moers. Mehrheitlich schweigen sie gegenüber den Ermittlern zu den Vorwürfen. Hunderte IT-Asservate stellt die BAO „Janus“ sicher.

Neiseke listet weiter auf: 45 Terabyte Daten umfassen die Bilder, Videos und Sprachnachrichten. Gesichert werden 292 Millionen Dokumentenseiten und 11,25 Millionen Bildaufnahmen. 87.000 Personalarbeitszeitstunden fallen bis Ende April 2021 bei der Polizei für die Ermittlungen an. Dann trudelt die erste Akte bei Neiseke ein. Ein Jahr später umfasst der Bestand 30.000 Seiten. Es beginnt die strafrechtliche Bewertung.

Die Konsequenzen

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Es gibt dabei ein Hindernis, das der Gesetzgeber noch nicht aus dem Weg geräumt hat, obwohl dazu erste Pläne kursieren: Wenn moralisch oder ethisch selbst höchst bedenkliches Gedankengut in einem geschützten Rahmen anstatt in der Öffentlichkeit verbreitet wird, ist das derzeit nicht strafbar. Für elf Beschuldigte haben die Ermittlungen keine strafrechtlichen Konsequenzen gehabt - entweder, weil letztlich keine Straftat vorlag oder weil es keinen hinreichenden Tatnachweis gab.

„Das ,Alpha Team’ war ein kleiner verschworener Kreis“, sagt Staatsanwältin Neiseke, „und das war bei ,Kunta Kinte’ genau so. Daran ist die Strafbarkeit gescheitert.“ Gegen vier Beschuldigte erwirkte die Staatsanwaltschaft Strafbefehle wegen des Verwendens verfassungswidriger Symbole beziehungsweise Volksverhetzung. Sie hatten explizit zum Teilen und weiteren Verbreiten der inkriminierten Inhalte aufgefordert. Das wiederum ist auch jetzt schon strafbar.

Die Strafbefehle

Vor allem aber förderten die Ermittlungen eine Menge Beifang zu Tage, so erklärt sich die Gesamtzahl von 13 bislang erlassenen Strafbefehlen. Bei der Polizistin etwa wurden Amphetamine und Munition gefunden. Weitere Taten, die zu den Strafbefehlen führten, gehen quer durch das Strafgesetzbuch: Unterschlagung, Versicherungsbetrug, Verstoß gegen das Waffengesetz, Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen.

Fünf der Strafbefehle umfassen Geldstrafen zu Tagessätzen von 91 oder mehr, der höchste liegt bei 200. Diese aktuellen oder ehemaligen Polizisten gelten jetzt als vorbestraft. Mit Blick auf den Anfangsverdacht bilanziert Neiseke aber: „Die Sorge vor einem rechtsextremistischen Netzwerk hat sich nicht bestätigt.“

Das Beamtenrecht

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Wegen der offenkundigen Verfehlungen kommen auf zahlreiche Beamte disziplinarrechtliche Prüfungen zu, die unabhängig von den strafrechtlichen Verfahren geführt und erst nach deren Abschluss aufgenommen werden können. Laut dem zuständigen Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten (LAFP) waren insgesamt 42 damals aktive und zwei ehemalige Beamte von dem Komplex betroffen. Bis heute seien noch 19 Polizisten vorläufig des Dienstes enthoben, erklärt die Behörde. Zwei Beamte seien auf eigenen Antrag aus dem Beamtenverhältnis entlassen worden, einer sei verstorben.

Regulär wieder Dienst schieben drei Jahre später noch 20 Polizisten. 23 Disziplinarverfahren seien inzwischen abgeschlossen, 20 davon ohne Konsequenzen. Bei dreien gab es Maßnahmen, bei denen das LAFP aus Datenschutzgründen keine weiteren Angaben macht.

Die Justiz

Selbst nach drei Jahren ist ist klar: Der Komplex wird nicht nur das LAFP, sondern auch die Justizbehörden noch lange beschäftigen. Derzeit sind zehn der 13 erlassenen Strafbefehle rechtskräftig. Drei Betroffene haben Rechtsmittel eingelegt und gehen dagegen vor. Als nächstes befasst sich das Duisburger Landgericht am kommenden Donnerstag in der Berufung mit dem Fall eines Polizisten, der ein kinderpornografisches Bild in einer Familiengruppe bei WhatsApp verschickt haben soll - es soll als Witz gedacht gewesen sein. Den Strafbefehl dafür in Höhe von 90 Tagessätzen hatte der Mann nicht akzeptiert. Die eigentliche Tat war schon im Jahr 2016, das Urteil aus der ersten Instanz am Amtsgericht fiel im vergangenen Jahr.

Für den Fall des Polizisten aus der Mülheimer Leitstelle gibt es noch keinen Termin. Das dortige Amtsgericht muss noch über die Zulassung der Anklage entscheiden.

Ein Ermittlungsverfahren ist auch bei der Staatsanwaltschaft Duisburg noch offen. Laut der Behörde stehen sie kurz vor dem Abschluss. Es gehe um die „Tatvorwürfe des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, der Volksverhetzung und des Verstoßes gegen das Waffengesetz“. Auch dieser Polizist soll aktiv entsprechende Inhalte wie Hakenkreuz-Abbildungen verbreitet und aktiv zum Teilen aufgerufen haben. Als die Polizei bei ihm anrückte, kassierte sie bei der Durchsuchung nicht nur sein Handy ein. Auch einen Schlagring stellten die Beamten sicher.

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