Kleve. Das Landgericht verhandelt einen Todesfall im Leiharbeitermilieu. Der Angeklagte zeigte im Videocall mit seiner Schwester seine Rettungsversuche.

Als die 18 Jahre alte Frau im Schockraum des Klever Krankenhauses ankam, hatte sie trotz bester medizinischer Betreuung vermutlich schon keine Chance mehr. Die Ärzte stellten ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Einblutungen fest, sie diagnostizierten massive Bauchverletzungen, sie entdeckten gebrochene Wirbel, und vom Kopf bis zu den Beinen fanden sie Blutergüsse, manche frisch, andere älter.

Kurze Zeit nach der Einlieferung erklärten die Mediziner die Frau für hirntot. Und ihr Freund C., 23 Jahre alt, musste sich am Montag vor dem Landgericht Kleve für diese Tat verantworten. Schwere Körperverletzung mit Todesfolge, so lautete die von Staatsanwalt Pascal Merchowski vorgetragene Anklage.

Keine Erinnerung mehr?

C. selbst will sich an die Tat, die am Mittag des 31. März 2021 in einer Etagenwohnung in der Gutenbergstraße in Kleve geschah, nicht mehr erinnern. Über seine Anwältin ließ er verlauten, er wisse noch, dass es eine Auseinandersetzung gegeben habe. Er habe zuvor Marihuana und Crack konsumiert, was dann genau geschehen sei, wisse er nicht mehr. Seine Erinnerung setze erst wieder ein, als er vor dem Haus versucht habe, Hilfe zu erlangen.

Die Hintergründe des Prozesses führten einmal mehr ins Milieu der osteuropäischen Leiharbeiter. Das Opfer und ihr angeklagter Freund stammen aus Rumänien, und dort gehören sie zur Minderheit der Roma. Eine Schule besuchten beide nie, ihre Eltern schlugen sich als Bettler durch, C. arbeitete in seinem jungen Erwachsenenleben einmal mehrere Monate in Portugal als Handlanger bei Souvenirverkäufern.

Im Schlachthof Tiere zerlegt

C.s Schwester und deren Partner fanden derweil einen Job in den Niederlanden – in einem Schlachthof. An vier Bändern werden dort im Akkord Tiere zerlegt. Zeitarbeitsfirmen rekrutieren die Ausbeiner und bringen sie in abgewrackten deutschen Wohnungen unter, weil es billiger ist. Um 3.30 Uhr werden die Beschäftigten zur Arbeit abgeholt.

Als C. kein Geld mehr hatte, meldete er sich bei seiner Schwester, die ihm anbot, doch ebenfalls in dem Schlachthof zu arbeiten. „Die Arbeit ist schwer“, will sie ihm gesagt haben. „Egal“, soll der Bruder geantwortet haben. Er wollte Geld für seine Hochzeit zusammensparen.

Anfang März kamen C. und seine Partnerin in Kleve an. Sie bekamen eines der zwei Zimmer in der Wohnung der Schwester, und beide fingen wie geplant an zu arbeiten. Doch vor Gericht zeigte sich, dass von Harmonie bei den beiden nicht die Rede gewesen sein kann – es gab wohl des Öfteren Streit, und ein Zeuge berichtete auch, dass der Arbeitgeber Anstoß daran genommen hatte, dass die Freundin mit einem blauen Auge zur Arbeit erschienen war. Das Unternehmen drohte C. rauszuwerfen.

Facebook-Videocalls zeigten das Geschehen

Am 31. März wurden die beiden nicht vom Kleinbus der Zeitarbeitsfirma abgeholt, warum, weiß man nicht. Die wenigen Stunden reichten offenbar, dass die Dinge eskalierten. Zur Aufklärung trug die Schwester des Angeklagten bei, die Urlaub in ihrer rumänischen Heimat machte, aber mit mehreren Facebook-Videocalls in das Geschehen eingebunden worden war.

Zuerst rief ihr Partner an und sagte, dass der Bruder und seine Freundin nicht zur Arbeit abgeholt worden seien. Dann gab es ein mehrstündiges Gespräch zwischen den beiden Frauen, in denen die 18-Jährige über Schmerzen klagte und darum bat, dass ihr Medikamente mitgebracht werden sollten. Und schließlich meldete sich gegen Mittag der Bruder, der mitteilte, dass er seine Freundin „geschubst“ habe und sie daraufhin ohnmächtig geworden sei.

Mit Wasser übergossen

Der Videocall offenbarte, dass sie – bekleidet – auf dem Luftbett lag, mit gefalteten Händen. Der Bruder versuchte sich daran, die ins Bewusstsein zurückzuholen, offenbar unter anderem, indem er sie mit Wasser übergoss, indem er sie an Armen und Beinen massierte, sich an einer Herz-Lungen-Massage versuchte und auch an einer Mund-zu-Mund-Beatmung. Die Schwester bekam alles mit, weil er sein Handy so aufgestellt hatte, dass seine Aktionen zu sehen waren.

Nachdem die Versuche allerdings etwa drei Stunden ohne Erfolg blieben, sagte seine Schwester, er soll auf die Straße gehen und Hilfe holen. Polnische Passanten alarmierten die Rettungskräfte, der Bruder selbst sagte noch „Mama geht’s schlecht“ ins Telefon und verschwand. Er flüchtete nach Rumänien, wurde dort straffällig (Drogen, Fahren ohne Fahrerlaubnis) und wurde nach Verbüßung seiner Haftstrafe nach Deutschland ausgeliefert.

Zuviel TikTok?

Zum Motiv sagte die Schwester, dass die Frau sich viele „Lives“ auf der Kurzfilmchenplattform TikTok angeschaut habe. Das sollte vermutlich in Richtung Eifersucht gehen, wurde aber nicht näher erläutert.

Die Rettungskräfte fanden in einer leeren Wohnung eine schwerverletzte, tiefkomatöse Frau, die kaum noch atmete und deren Körpertemperatur bereits auf 31 Grad abgefallen war. Hätte sie gerettet werden können, wenn sofort und nicht erst nach drei Stunden ein Arzt verständigt worden wäre?

Das zu beurteilen, war Aufgabe des Gerichtsmediziners Dr. Peter Gabriel aus Duisburg. Doch er kam am Montagnachmittag nicht mehr zu Wort, weil der Angeklagte über Unwohlsein klagte und der Prozess daraufhin unterbrochen wurde. Fortgesetzt wird die Verhandlung nun am 30. Januar um 14 Uhr. Dann soll auch das Urteil erfolgen.