Niederrhein. Immer mehr Menschen in Deutschland leben ohne festen Wohnsitz. Warum die Zahlen steigen und welche neuen Herausforderungen damit einhergehen.

Wohnungslosigkeit in Deutschland allgemein und in Nordrhein-Westfalen im Speziellen

stieg in den letzten Jahren stark

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    an. Außerdem wird die Gruppe der Betroffenen immer diverser. Es sind Menschen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen, die längst nicht mehr alten Stereotypen entsprechen. So stellen nicht nur die massiv gestiegenen Zahlen Sozialverbände und Hilfsorganisationen am Niederrhein vor immer neue Probleme.

    Wohnungslosigkeit: Massiver Anstieg, unterschiedlichste Personen betroffen

    „Immer mehr junge Personen sind betroffen“, berichtet etwa der Direktor der Caritas in Wesel und Hamminkeln, Michael van Meerbeck. Oft habe man beim Thema Wohnungslosigkeit eher ältere Menschen vor dem inneren Auge, die aus der sozialen Stabilität herausgefallen seien. „Was wir jetzt aber sehen, sind junge Menschen, die ihre Ausbildung nicht geschafft haben oder an psychischen Erkrankungen leiden – also Menschen, die noch gar keinen festen Stand im Leben finden konnten. Auch sehen wir immer mehr Familien, die ihre Wohnungen verlieren und Frauen ohne festen Wohnsitz.“

    Dass immer stärker Frauen und Familien betroffen sind, erlebt auch Oliver Ongaro, der neben seiner Arbeit als Streetworker (Sozialarbeiter) auch für die Öffentlichkeitsarbeit beim Obdachlosen-Magazin Fiftyfifty verantwortlich ist. „Wir erleben, dass die Straßen-Obdachlosigkeit steigt und treffen hier auch immer mehr Frauen an“, berichtet er. Dies sei eine neue Entwicklung, da wohnungslose Frauen oft bei Bekannten unterkämen und so unter die sogenannte „verdeckte Wohnungslosigkeit“ fielen.

    Erhebungen zur Wohnungslosigkeit: Bedenkliche Entwicklungen in Deutschland und NRW

    Wie stark die Zahl wohnungsloser Menschen gestiegen ist, zeigen zahlreiche Erhebungen. So zeigt die aktuellste Wohnungslosenstatistik des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen einen Anstieg wohnungsloser Menschen im Bundesland um 62,3 Prozent auf insgesamt 78.350 im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr.

    Einen ähnlich hohen Anstieg verzeichnet die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) in ihrer Hochrechnung für die gesamte Bundesrepublik. Laut dieser waren im gesamten Jahr 2022 rund 607.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung im Vergleich zu 383.000 im Vorjahr – ein Anstieg von 57 Prozent.

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    Dabei müsse beachtet werden, dass diese Zahlen letztlich nur eine Annäherung an die realen Zustände seien. So erklärt die Pressesprecherin der BAGW, Berit Pohns, auf Nachfrage, dass es auch für Experten nur sehr schwer möglich sei, die Dunkelziffer bei der Wohnungslosigkeit überhaupt einzuschätzen.

    Fehlender bezahlbarer Wohnraum: Ursprung der steigenden Obdachlosigkeit

    Doch über einige Aspekte herrscht relative Einigkeit. So ist etwa ein wichtiger Grund für die gestiegenen Zahlen die Aufnahme vieler wohnungsloser Geflüchteter – gerade aus der Ukraine – in den letzten Jahren. Jedoch müsse beachtet werden, dass die Gründe für die Krise nicht in der Zuwanderung liegen. So betont Berit Pohns, dass nicht „Einwanderung oder Zuwanderung die Ursache für Wohnungskrise ist, sondern der fehlende bezahlbare Wohnraum“. Anderslautende Schuldzuweisungen würden nur Personengruppen gegeneinander ausspielen.

    Ähnlich äußert sich auch van Meerbeck und verweist auf die ganz handfesten finanziellen und materiellen Notlagen, die Populisten häufig außen vor ließen. „Wir können uns noch so sehr bemühen, den Betroffenen zu helfen – ohne bezahlbaren und verfügbaren Wohnraum wird sich nichts nachhaltig ändern“, so der Caritas-Direktor. „Aber all diese Probleme sind ja bekannt, sie müssten nur endlich mal effektiv angepackt werden.“

    Düsseldorf: „Immer mehr Wohnungen fallen aus der Sozialbindung“

    Fehlender bezahlbarer Wohnraum ist auch in den Großstädten an Rhein und Ruhr deutlich zu spüren. Das bestätigt Oliver Ongano im Gespräch. „Immer mehr Wohnungen fallen aus der Sozialbindung“, erzählt er. Dies träfe gerade Menschen mit kleinen Renten und Einkommen. „Wir sehen aus eigener Erfahrung, dass immer mehr Menschen zu uns in die Beratung kommen, die vorher nichts mit derartigen Hilfsangeboten zu tun hatten.“

    Zum zentralen Problem des fehlenden Wohnraums kommen aber noch weitere Aspekte. Laut BAGW ist der Hauptgrund für den Verlust einer Wohnung eine Kündigung. „Dafür sind wesentliche Auslöser Miet- und Energieschulden, Konflikte im Wohnumfeld sowie Trennung/Scheidung. Dazu kommen dann erschwerte finanzielle Bedingungen durch steigende Mietkosten und Inflation“, erklärt Berit Pohns. Soziale, finanzielle und auch gesundheitliche Aspekte kommen in derartigen Notlagen oft zusammen.

    Soziale Krisen: Solidarität kann Last der betroffenen Menschen mildern

    Immer mehr Menschen seien vor diesem Hintergrund nun auf gesellschaftliche Solidarität angewiesen, so beschreibt es van Meerbeck. Gleichzeitig, betont er, bröckele diese. So zerrütteten Krisen nicht nur Lebensrealitäten – worunter sozial benachteiligte Menschen besonders stark leiden – sondern es fehle auch an Institutionen, die hier Orientierung und Hilfestellungen bieten könnten.

    Zusätzlich müssten sich Verantwortliche auch bemühen, individueller Hilfsangebote zu schaffen, um mehr Betroffene zu erreichen und sie dort zu unterstützen, wo sie aktuell im Leben ständen. „Eine junge Frau, die sich von Schlafplatz zu Schlafplatz durchschlägt und dabei eventuell zu irgendwelchen Gegenleistungen gedrängt wird, steht vor ganz anderen Herausforderungen als die Familie, die nach einem finanziellen Engpass ihre Wohnung verloren hat.“ Er betont jedoch auch: „Wohnungslosigkeit ist ein Symptom von gesellschaftlichen Problemen. Und an diesen Wurzeln muss das Ganze angegangen werden.“