Am Niederrhein. Ingrid Misterek-Plagge vom Kulturraum Niederrhein spricht über neue Projekte und wie das Museum der Zukunft aussehen könnte.

Der Kulturraum Niederrhein ist ein Verein, der 1992 aus einer privaten Bürgerinitiative hervorging. Seit 1997 ist er Koordinierungsstelle der regionalen Kulturpolitik NRW und berät Organisationen oder Kommunen bei ihrer Suche nach finanzieller Unterstützung für ihre Projekte. Die Fäden für die meist grenzüberschreitenden Ideen laufen hier zusammen. Ein Gespräch mit der Geschäftsführerin des Kulturraums Niederrhein e.V., Ingrid Misterek-Plagge, über die Kulturarbeit am Niederrhein, zu Ende gehende Aktivitäten, neue Projekte und die Folgen der Pandemie.

Das Themenjahr geht seinem Ende entgegen. Wie sind Ihre Erfahrungen, wie ist die Bilanz?

Nach der hybriden Eröffnung der Veranstaltungsreihe „Provinz – provinciaals?“ im Mai letzten Jahres folgten in kurzen Abständen 32 Ausstellungen, flankiert von einem umfangreichen Rahmenprogramm. Das nunmehr sechste Themenjahr wird noch bis Frühjahr 2023 andauern. Die letzte Eröffnung findet am 25. November im Grafschafter Museum in Moers mit der Ausstellung „Räuber der Provinz. Historische Räuber und Räuberbanden im Rhein-Maas-Raum“ statt. Die noch laufende Ausstellung „Fossa Eugeniana – Auf den Spuren einer Grenzlegende“ in der Forschungs- und Begegnungsstätte Haus Ingenray zeigt, wie man historische Ereignisse, die sich quasi vor der Haustür abgespielt und deutliche Spuren hinterlassen haben, in mehrfacher Hinsicht greifbar machen kann.

Dr. Ingrid Misterek-Plagge ist Geschäftsführerin des Kulturraums Niederrhein e.V.
Dr. Ingrid Misterek-Plagge ist Geschäftsführerin des Kulturraums Niederrhein e.V. © Kulturraum Niederrhein

Wie kam es zur Auswahl des Mottos „Provinz – provinciaals“?

Inkubator des Themenjahres war die Bewerbung der Anrainer des Niedergermanischen Limes um den Status des UNESCO-Weltkulturerbes. Natürlich war der Jubel groß, als „unser Limes“ im Sommer 2021 dann tatsächlich in den Olymp aufstieg, zu dem Zeitpunkt lag das Museumsmagazin mit seinen passgenauen Angeboten bereits überall aus – der Kulturraum war auf ganzer Ebene aufgestellt.

Die Römer gelten als die ersten, die ihren Herrschaftsraum in Provinzen einteilten, dabei nutzten sie den Rhein als „nasse Grenze“. Das Verwalten in Provinzen – von der römischen Provinz über die preußische Rheinprovinz auf der deutschen und den zwölf Provincies auf der niederländischen Seite – prägt die Niederrhein-Lande bis heute.

Inhaltlich geht es im Themenjahr also um Herrschaftsgrenzen und Grenz-Geschichte/n entlang des Rheins. Geboten werden dabei Abenteuer auf Schmugglerpfaden und in den Hinter-Wäldern historischer Räuberbanden oder virtuelle Zugfahrten über die historische Weseler Eisenbahnbrücke. So führte die Lesereise „Horizonte Frauen Land Leben“ zu den kaum bekannten Land-Frauen, die Großartiges geleistet haben, während das Welttheater von Nütterden (Kranenburg) an einem Wochenende Dorfgeschichte/n und Zukunftsperspektiven auf großer Bühne mit Daheimgebliebenen und Wiederkehrenden inszenierte. Jedes dieser Projekte hat die Bedeutung der niederrheinländischen Provinz insbesondere denjenigen vor Augen geführt, die heute in ihr leben. Sie alle verzeichnen bis Dato und trotz der zwischenzeitlich angespannten Pandemielage eine sehr gute Besucherresonanz. Auch das museumspädagogische Programm „KIM-Klasse ins Museum“, das Schulen die Anfahrtskosten zu den Museen erstattet, nimmt nach der Pandemiezäsur wieder richtig Fahrt auf.

Wie sieht die Kulturarbeit am Niederrhein generell aus?

Der Kulturraum ist als Koordinierungsstelle des Regionalen Kultur Programm NRW die „Drehscheibe“ der Region, die Ideen, Menschen und Möglichkeiten zusammenführt, gemeinsame Leitvorstellungen verhandelt und Förderperspektiven schafft. Dabei geht es vor allem auch darum, Kultur mit anderen Handlungsfeldern wie Wirtschaft, Tourismus oder Soziales zu verbinden, im besten Sinne also grenzüberschreitend zu agieren. Die Pandemie hat diesen Auftrag eher noch verstärkt. In einem nie dagewesenen Solidarakt wurden Kulturschaffende von Sponsoren, Land und Bund unterstützt und in ihrer freien Arbeit als systemrelevant für die Demokratieentwicklung gewürdigt. Ob Städtebau, Bildungs- und Sozialeinrichtungen oder Reiseveranstalter, alle können nur gewinnen durch Investitionen in künstlerisch-kreative Prozesse. Kunst- und Kulturschaffende wiederum entdecken hier bisweilen neue Verdienst- und Aktionsmöglichkeiten auf noch unbekanntem Terrain.

Welche Schwerpunkte setzt der Kulturraum?

Kultur am Niederrhein will ein relevanter Partner und Innovationstreiber der Nachhaltigkeitswende werden, so das erklärte Ziel im neuen Leitbild der „Nachhaltigen Kulturregion Niederrhein“. Nur in solchen fachübergreifenden Bündnissen lässt sich der Umbau zu einer nachhaltigen Kulturlandschaft schaffen. Und dies soll ohne weiteren Zeitverzug begonnen werden. Schon in diesem Jahr gingen bei uns viele Förderanfragen ein, die mit ökologischen Produktionsmöglichkeiten experimentieren, das Thema Mobilität in den Blick nehmen oder sich mit der Kulturgeschichte des Klimawandels auseinandersetzen. Das größte Projekt wurde vom Museumsnetzwerk Rhein-Maas eingereicht und trägt den Titel „Erdung-aarding“.

Was muss man sich darunter vorstellen? Welche konkreten Projekte wird es geben?

Unter diesem Motto möchte das Museumsnetzwerk Rhein-Maas Denkanstöße liefern zum Verhältnis von Kultur und Natur, zur Gewichtung von Ökonomie und Ökologie, zur Überprüfung bestehender Wertesysteme in globalen Zusammenhängen. Auch das Betriebssystem Museum selbst soll einer kritischen Betrachtung unterzogen werden: Wie kann das Museum der Zukunft aussehen? Wie kann es ihm gelingen, sich als sozialer Ankerpunkt neu zu „erden“ und wie will es den ökologischen Wandel hin zu einer klimabewussten Veranstaltungskultur meistern? Teilhabe und Vermittlung sollen wie schon in den Vorgänger-Jahren eine Schlüsselrolle spielen. Literatur inszeniert sich an besonderen Orten, ein Ausflugsprogramm führt entlang der Museumsrouten.

Die Muziek Biennale wird ja auch in diesem Jahr fortgesetzt. Was erwartet Besucherinnen und Besucher?

Die Muziek Biennale Niederrhein hat sich 2020 auch von der Pandemie nicht einschüchtern lassen und kreative Aufführungslösungen gefunden, ist mitunter in den digitalen oder Außen-Raum ausgewichen, hat Termine ins folgende Frühjahr verschoben. In diesem Jahr gab es zwar bisher keine Einschränkungen, allerdings stellen wir fest, dass das Publikum noch nicht überall zurückgekommen ist. Ob es sich um eine ernstzunehmende Wende in unserer Angebotskultur handelt, werden die nächsten Wochen und Monate noch zeigen.

Jedes Kreisgebiet hat eine Spezialität ins Biennale-Programm eingebracht: im Rhein-Kreis Neuss kann man zum Beispiel auf 30 Kilometer Radstrecke eine Konzertkaskade an besonderen Orten erleben, im Kreis Kleve läuft aktuell noch das Projekt „Sculptures Musicales“ des Ensemble Crush in vier benachbarten Kunstmuseen und im Kreis Viersen die brandneue LiteraTon-Reihe. Das Sahnehäubchen der Biennale aber sind die Ausflugsarrangements, die meist schon vor Veröffentlichung ausgebucht sind.

Und dann gibt es ja noch das neue länderübergreifende Programm Borderland Residencies?

Hier koordiniert der Kulturraum Niederrhein ein offenes Netzwerk der Residenzen an Rhein und Maas, die mit besseren Stipendien, Materialbudgets und Fortbildungsangeboten ausgestattet werden. Statt immer wieder Neues anzustoßen, möchte man schon Bestehendes stärken und im Zusammenschluss internationalisieren. Die Idee hat in kürzester Zeit eine so große Anhängerschaft gefunden, dass sie bereits im kommenden Jahr auf den Aachener und belgischen Raum ausgeweitet wird. Im Fokus der eingeladenen Kunstschaffenden aus aller Welt steht ganz klar die Auseinandersetzung mit dem Transformationsraum „Rheinisches Revier“.

Wie sieht der Kulturraum der Zukunft aus?

Die Kultur kann ein wichtiger Mittler und Info-Booster sein, wenn es darum geht, das neue Leitbild einer nachhaltigen Kulturregion zu formen. Eine Änderung unseres Konsumverhaltens ist unabwendbar. Wir werden umdenken müssen. Die Kulturbetriebe müssen in diesen Prozess einsteigen. Die Debatte hätte schon viel früher gestartet werden müssen.

Infos: www.kulturraum-niederrhein.de | www.muziekbiennale.eu | www.borderland-residencies.eu | www.niederrhein-museen.de | www.kim-euregio.eu

>>> Kultur-Tipps am Niederrhein

Sculptures Musicales: Das Duisburger Ensemble Crush beschäftigt sich intensiv mit der Wechselwirkung von Klang und Raum. In einer für die Muziek Biennale Niederrhein eigens produzierten Reihe bespielen sie vier Kunstmuseen im Kreis Kleve als Begegnungsorte von Kunst, Musik und Mensch. Musizierende und Publikum sind frei, sich zwischen Räumen zu bewegen, nach nebenan zu gehen, Klang- und Hörperspektiven zu wechseln – oder auch zu bleiben. Nächstes Konzert: Freitag, 28. Oktober, um 19 Uhr im Koenraad Bosman Museum, Rees

Movimento II: Im Rhein-Kreis Neuss haben sich auf Initiative des Festivals Alte Musik Knechtsteden neun Kulturveranstalter zusammengefunden und ein Konzept im Rahmen der Muziek Biennale Niederrhein entwickelt, mit dem sich innerhalb eines Tages die Kulturregion mit Musik und per Fahrrad nachhaltig und umweltfreundlich erleben lässt. Auf idyllischen 28 Streckenkilometern von Grevenbroich nach Neuss, bilden die Zehntscheune Elsen, die Villa Erckens, das Martinus Forum Wevelinghoven, das Museum Insel Hombroich, St. Paulus Weckhoven, Schloss Reuschenberg und die Kafferösterei BAZZAR im Neusser Hafen die reizvollen Kulissen für Kurzkonzerte, Kleinkunst und Besichtigungen.

Musik auf Höfen: Konzerte auf Höfen hat die Muziek Biennale Niederrhein schon länger im Repertoire. In diesem Jahr, ihrer achten Ausgabe, richtet sie jedoch erstmals ein besonderes Augenmerk auf die Historie und Gegenwart der Landwirtschaftsbetriebe und erklärt gleich fünf derselben zu Podien der internationalen Jazzszene.

LiteraTon: Wenn sich Literatur und Musik zu gemeinsamen Themen an besonderen Orten treffen, werden Stimmungen erzeugt, Realitäten hinterfragt und nicht selten auch Lachmuskeln bewegt. So viel garantiert die neue Reihe LiteraTon des Kreises Viersen, die im Rahmen der diesjährigen Muziek Biennale Niederrhein startet. Noch ausstehende Veranstaltung: Stunde der Nacht, Sibylle Bertsch, Rezitation, Pim Weierink und Jorres Douwes/ Gitarren, am Samstag, 29. Oktober, um 19.30 Uhr, Einlass 19.00 Uhr, Niederrheinisches Freilichtmuseum Grefrath.