Emmerich. Für Familien ist es oft herausfordernd, wenn ein Kind hochbegabt ist. Eine Mutter aus dem Kreis Kleve erzählt von ihren Erfahrungen.
Hochbegabt? Dann spielt das Kind doch sicher perfekt Klavier, beherrscht gleich mehrere Sprachen und ist ein echter Überflieger in der Schule... Ja, solche Vorurteile kennt auch Friederike Metzemaekers, die einen Gesprächskreis für Eltern hochbegabter Kinder in Emmerich leitet. „Aber das ist eine super heterogene Gruppe“, betont sie. Jedes hochbegabte Kind hat andere Eigenschaften, andere Bedürfnisse. Der IQ ist nur ein Teil der Persönlichkeit und eine Hochbegabung weitaus mehr als nur ein hoher IQ. Das weiß sie selbst nur allzu gut, denn ihre beiden Söhne sind hochbegabt. Was genau das bedeutet – für die Kinder, aber auch für die Eltern –, musste die Familie jedoch erst über die Jahre lernen zu verstehen... und zu akzeptieren.
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Eine Hochbegabung bringt viele Herausforderungen mit sich, das zeigt auch die Geschichte von Nadine Meier*. Wenn sich die Mutter an die ersten Jahre ihres ältesten Sohnes zurückerinnert, dann kann sie sagen: „Anders war er irgendwie schon immer.“ Als Baby wollte er nie weg von seiner Mama, als Kleinkind maß er verschiedene Sachen aus oder rechnete mit Zahlen herum, als Fünfjähriger spielte er Monopoly und zählte das Spielgeld. Alles Dinge, die nicht weiter schlimm sind. Erst als es im Jahr 2020 einen Todesfall in der Familie gab, veränderte sich sein Verhalten. „Er hatte eine Wut, die er aber nur Zuhause zeigte“, erzählt sie. An eine Hochbegabung dachte zu diesem Zeitpunkt niemand, „er war einfach nicht mehr zugänglich.“
Familie holt sich Hilfe bei einer Beratungsstelle
Besonders abends kam er schwer runter, was also tun? Die Eltern holten sich Unterstützung bei der Familienberatungsstelle der Caritas. Nachdem sie ihre Situation geschildert hatten, erhielten sie den Tipp, ihm abends lieber etwas aus Büchern für Kleinere vorzulesen. Gesagt, getan. Doch das behutsame Vorgehen hatte einen eher gegenteiligen Effekt... Nächster Termin, nächste Idee: Vielleicht ist das Kind nicht über-, sondern unterfordert? Vielleicht braucht es nicht weniger, sondern mehr Input? Also gab‘s abends statt „Leo Lausemaus“ nun „Was ist Was?“ Und tatsächlich, es funktionierte! Vielleicht, so überlegt Nadine Meier, weil sein Wissensdurst nun gestillt wurde, ganz nach dem Motto: „Ich darf denken!“
Doch was bedeutete das nun? „Wir waren erstmal hilflos“, gibt die Mutter zu. Irgendetwas war anders mit ihrem Sohn, aber was genau? ADHS oder Autismus standen als Diagnosen im Raum, „weil sich viele Sachen überschneiden“, sagt sie, „aber irgendwie passte nichts so richtig.“ Auch als sie bei der Erstberatung des Regionalvereins der „Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind e.V.“ (DGhK Rhein Ruhr e.V.) anrief, sagte sie erstmal: „Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin.“ So, wie wahrscheinlich viele Eltern von hochbegabten Kindern, vermutet sie. Weil es eben all die Vorurteile gibt, auch gegenüber den Eltern. „Wir waren nie die Eltern, die wollten, dass ihr Kind mit fünf Jahren schon mehrere Sprachen spricht“, betont sie. „Wir wollten nur unserem Kind helfen.“
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Große Belastung für die ganze Familie
Und dann, nach einer kurzen Pause, fügt sie hinzu: „Und uns als Familie auch, weil es uns alle sehr belastet hat.“ Im Telefonat mit der Expertin zeigte sich jedoch schnell, dass viele Punkte auf eine Hochbegabung hindeuten. Die Entwicklungsschritte, die ihr Sohn übersprungen hatte, „beide Kinder sind nie gekrabbelt“, erinnert sie sich. Seine schnelle Auffassungsgabe und sein gutes Erinnerungsvermögen, „er kann sich sogar an Sachen erinnern, die er mit anderthalb Jahren erlebt hat“. Aber auch sein ungewöhnliches Schlafverhalten, „er brauchte immer viel weniger Schlaf als das, was empfohlen wurde.“ Vieles deutete auf eine Hochbegabung hin, doch die Eltern wollten nun auch die Gewissheit.
Zwar übernimmt die Krankenkasse die Kosten von 300 bis 600 Euro für einen IQ-Test, wenn ein Kind entsprechende Auffälligkeiten aufzeigt, „aber es gibt immer lange Wartelisten“, sagt Nadine Meier. „Und wir brauchten jetzt sofort Hilfe.“ Tatsächlich, während die meisten Menschen bei dem Intelligenztest einen Wert zwischen 85 und 115 erreichen, lag der Wert ihres ältesten Sohnes bei über 130. Was das heißt? Nunja, „es musste geguckt werden, ob er genug gefördert wird“, antwortet sie. So entschieden beispielsweise die Eltern, in Absprache mit dem Kind und der Schule, dass ihr Kind direkt in die zweite Klasse eingeschult wurde. Und nein, er konnte nicht schon vor der Einschulung lesen, „aber zwei Wochen später.“
Auch das zweite Kind ist hochbegabt
Doch auch hierbei ist Nadine Meier wichtig zu betonen, dass es immer individuelle Lösungen geben muss. „Es geht darum, dass jedes Kind so gesehen wird, wie es ist“, sagt sie. „Mit all seinen Potenzialen und Schwächen.“ Genauso handhaben die Eltern es bei ihrem älteren, aber auch bei ihrem jüngeren Kind – das ebenfalls hochbegabt ist, wie der IQ-Test zeigte. Wobei, eigentlich hatten sie es schon vorher geahnt. Er ist ebenso wissbegierig, lernt schnell „und hat feine Antennen für Stimmungen“, wie sie es beschreibt. Und doch gibt‘s zwischen den beiden auch viele Unterschiede – der eine ist beispielsweise mathematisch begabt, der andere sprachlich.
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Übrigens, nur gute Noten bringen die beiden nicht nach Hause. „Weil sie keine Lust haben zu lernen, wenn sie die Sinnhaftigkeit darin nicht erkennen“, erklärt die Mutter. Wenn sie jedoch ein Thema entdecken, das sie spannend finden, „sind sie nicht mehr zu stoppen“, sagt sie und lacht. Neulich beispielsweise ging‘s um die Relativitätstheorie... Ganz ehrlich, kommen die Eltern dann nicht selbst auch an ihre Grenzen? Sie nickt. „Aber es ist wichtig, authentisch zu bleiben und einfach zu sagen, dass ich es nicht weiß und wir gemeinsam schauen, woher wir die Infos bekommen.“ Wobei sie mittlerweile weiß, dass auch sie eine Hochbegabung hat. „Das war das Puzzleteil, das gefehlt hat“, sagt sie. „Ich hatte immer das Gefühl, anders zu sein als andere.“
DGhK-Gesprächskreis für Eltern hochbegabter Kinder
Seit April 2024 können sich Eltern hochbegabter Kinder im Kreis Kleve zu einem monatlichen Gesprächskreis der DGhK Rhein Ruhr e.V. treffen. Willkommen sind auch Großeltern, Erzieher*innen oder Lehrer*innen.
Zu Beginn gibt‘s immer einen kleinen Impulsvortrag, danach eine offene Gesprächsrunde. Die Teilnahme ist an keine Vorbedingungen, wie eine Mitgliedschaft oder die Testung des Kindes, geknüpft.
Die Treffen finden von 19.30 bis circa 22 Uhr im Familienbüro Ebkes, Steinstraße 10 in Emmerich, statt. Die nächsten Termine sind: 13. Dezember, 10. Januar, 14. Februar und 14. März. Anmeldung: 0177/3608186 oder per E-Mail an emmerich@dghk-rr.de
Mehr Informationen zum Regionalverein der DGhK Rhein Ruhr e.V.: www.dghk-rr.de
Friederike Metzemaekers kennt viele solche Geschichten. Als Betroffene entschied sie sich nach der Erkenntnis der eigenen Hochbegabung dazu, sich für die Familien hochbegabter Kinder im Kreis Kleve einzusetzen. Sie kündigte ihren Job und studiert mittlerweile Psychologie im fünften Semester. „Ich gehe jetzt mehr auch auf meine kognitiven Bedürfnisse ein“, erklärt sie. Außerdem hat sie sich zum Coach für Hochbegabte ausbilden lassen und setzt sich ehrenamtlich als Gesprächskreisleitung für die DGhK Rhein Ruhr e.V. ein, „weil ich sehe, dass der Bedarf da ist und ich anderen helfen möchte.“ Es gibt noch zu viele Vorurteile und gleichzeitig zu wenige Hilfestellen. Deshalb möchte sie über das Thema aufklären, gleichzeitig wünscht sie sich noch weitere Angebote für hochbegabte Kinder und Familien. Jedes Kind ist anders, aber, das ist ihr wichtig zu betonen: „Jedes Kind ist richtig!“
* Name wurde von der Redaktion geändert.
Dieser Text erschien erstmals am 11. Dezember 2024. Wir haben ihn noch einmal für Sie aktualisiert, weil er zu den beliebtesten Artikeln 2024 gehörte.