Wesel. ADHS bleibt bei Mädchen und Frauen häufig unerkannt. Auch Maike J. hat lange gelitten, bis sie mit 23 Jahren die Diagnose erhielt.

Taschentücher? Maike J.* nickt langsam und nimmt dann vorsichtshalber gleich die ganze Packung. „Ich bin nah am Wasser gebaut“, sagt sie entschuldigend. Und gerade wenn es um das Thema ADHS bei Frauen geht, kommen bei ihr viele Gefühle hoch. Traurigkeit, Verzweiflung, Frust, Wut... Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, dafür steht die Abkürzung ADHS, ist mit fünf Prozent eine der häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen, bei der lange Zeit davon ausgegangen wurde, dass sie bis zu vier Mal häufiger Jungen als Mädchen betreffen würde. Eine Fehlannahme, wie auch die Initiative „ADHS und Frauen“ betont. Doch wie kommen solche Zahlen zustande? „Jungen fallen eher auf, weil sie laut sind und den Unterricht stören“, antwortet Maike J. „Mädchen dagegen träumen viel und schauen nur aus dem Fenster.“ Dadurch wird die Diagnose schwieriger, der Leidensdruck aber auch umso größer – wie die 25-Jährige aus eigener, schmerzlicher Erfahrung weiß.

Wenn sie von ihrem Leben erzählen soll, schiebt Maike J. gleich eine Warnung vorneweg: „Das ist eine lange Geschichte.“ Dann aber beginnt sie doch zu erzählen – von ihrer Kindheit, ihrer Schulzeit, ihrer Jugend. „Ich war immer schüchtern und habe mich zurückgezogen.“ In der Grundschule konnte sie sich nie konzentrieren, schon das Klicken eines Kugelschreibers oder das Zwitschern eines Vogels lenkten sie ab. „Alles war interessanter als der Unterricht“, sagt sie. Und auch mit den anderen Kindern konnte sie nie viel anfangen. Statt draußen herumzutoben, war sie lieber allein und befasste sich mit ihrem absoluten Lieblingsthema: Ägypten! Alles, wirklich alles, was mit Pyramiden und Mumien zu tun hatte, faszinierte sie. „Ich hatte immer das Gefühl, dass ich anders bin und nicht dazu gehöre.“ Später, auf der weiterführenden Schule, wurde alles sogar noch schlimmer. „Ich wurde viel gemobbt“, erzählt sie. Die Folge: Depressionen, „später habe ich sogar eine Sozialphobie entwickelt“, fügt sie hinzu.

Zweifel und Scham

Seit sie 13 Jahre alt ist, befindet sich Maike J. in therapeutischer Behandlung. Mit 18 Jahren wurde bei ihr eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, genauer gesagt, Borderline. Ein echter Schock! „Da bekommt man sofort einen Stempel aufgedrückt“, erklärt sie. Und zwar nicht nur von der Gesellschaft. „Man findet kaum einen Therapeuten, weil die meisten keinen Bock darauf haben.“ Ja, auch sie hat sich selbst verletzt, das also passt schon zur Diagnose. Anderes dagegen, wie das typische manipulative Verhalten, trifft nicht auf sie zu. Tatsächlich würde sie sich selbst sogar als „sehr empathischen Menschen“ beschreiben. Dennoch ließ sie sich auf die Behandlung ein... allerdings blieb die erhoffte Besserung aus. „Ich habe immer noch nix hingekriegt“, erzählt sie. Keine Ausbildung, keinen Führerschein, ja, nicht einmal das Aufräumen ihrer Wohnung. „Stundenlang saß ich auf dem Sofa und habe mir Gedanken übers Aufräumen gemacht, dann wurde es dunkel und ich habe angefangen zu heulen.“

Katja Caspers von der Selbsthilfe-Kontaktstelle im Kreis Wesel unterstützt Menschen, die eine Selbsthilfegruppe gründen möchten.
Katja Caspers von der Selbsthilfe-Kontaktstelle im Kreis Wesel unterstützt Menschen, die eine Selbsthilfegruppe gründen möchten. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Du bist doch faul! Jetzt reiß dich einfach zusammen! All das bekommen Frauen mit ADHS oft zu hören. „Und irgendwann fühlt man sich wirklich wie eine Versagerin“, sagt Maike J., während sie schnell zum Taschentuch greift. „Du zweifelst an dir selbst und schämst dich.“ In ihrer Verzweiflung ging sie zum Neurologen, erzählte ihm von ihrer Diagnose und der Behandlung, die doch eigentlich funktionieren müsste! Ob sie sich denn in der Schule schon schlecht hätte konzentrieren können? Ja! Nach einigen Tests stellte er die Diagnose: Sie hat nicht etwa Borderline, sondern ADHS. Und weil das eine neurologische Störung ist, können Medikamente helfen, die bestimmte Botenstoffe im Gehirn erhöhen. Seit zwei Jahren nimmt sie nun schon Ritalin und das wirkt, sogar so gut, dass sie mittlerweile eine Ausbildung begonnen und sich für den Führerschein angemeldet hat. Ja, wenn sie davon erzählt, kann sie es selbst noch nicht recht glauben. Und dann kommen doch wieder die Tränen.

Austausch mit anderen Betroffenen

„Weil es mich so ärgert, dass es erst so spät erkannt wurde“, sagt Maike J., „mir hätte einiges erspart werden können.“ Aber vielleicht, das ist ihre große Hoffnung, kann sie mit ihrer Geschichte aufklären – damit andere Betroffene früher die Diagnose erhalten und schneller Hilfe bekommen. Deshalb hat sie sich einen Ruck gegeben, obwohl sie wusste, dass es emotional werden würde, und ist an die Öffentlichkeit gegangen. „Das Thema muss sichtbarer werden und aufzeigen, welchen Leidensdruck das alles mit sich bringt“, betont sie. Weil aber eben nur Betroffene genau verstehen, was sie durchgemacht hat, möchte sie zudem eine Selbsthilfegruppe für Frauen mit ADHS gründen. „Man könnte sich in der Gruppe gegenseitig Tipps geben, wie man mit bestimmten Situationen im Alltag umgeht“, erklärt sie. Denn trotz der Medikation steht auch sie noch tagtäglich vor Herausforderungen – wenn es im Restaurant laut ist, beispielsweise, und sie sich einfach nicht auf ihr Gegenüber konzentrieren kann.

Selbsthilfegruppe in Wesel

Die Selbsthilfe-Kontaktstelle Kreis Wesel möchten Frauen mit ADHS im Rahmen einer Selbsthilfegruppe die Gelegenheit geben, sich über ihre Situation auszutauschen. „Genau zu wissen, was die anderen fühlen und denken, kann sehr erleichternd sein“, erklärt Katja Caspers von der Selbsthife-Kontaktstelle.

Das erste Treffen soll am Mittwoch, 10. Januar, in Wesel stattfinden. Eingeladen sind alle Frauen, bei denen die Diagnose ADHS bereits gestellt wurde. Weitere Informationen erhalten Interessierte unter 02841/900016 oder per E-Mail an selbsthilfe-wesel@paritaet-nrw.org

Außerdem soll es in der Selbsthilfegruppe darum gehen, das Selbstwertgefühl wieder aufzubauen. Denn, auch das ist Maike J. wichtig zu betonen: „Das hört sich alles so negativ an, dabei gibt‘s auch ein paar positive Sachen!“ So kann sie sich für viele Dinge begeistern und nicht nur das, „ich kann mich dann durch meinen Hyperfokus auch richtig in ein Thema reinfuchsen.“ So wie am vergangenen Freitag, „da habe ich ein Video übers Häkeln gesehen und am Samstag habe ich mir das Häkeln direkt selbst beigebracht.“ Nach sechs Stunden hielt sie ihre erste, schon ziemlich perfekte, Mütze in der Hand! Moment, sie holt mal eben ihr Handy raus... Das muss sie einfach zeigen, sagt sie und lacht, „weil ich darauf so stolz bin!“

* Name ist der Redaktion bekannt.