Essen-Werden. Der Stadtteil Werden erinnert an seine jüdische Vergangenheit und deren Auslöschung. Diese Familien werden auf der Gedenktafel gewürdigt.
In Werden erinnert nun eine Gedenktafel am Leinewebermarkt an die ausgelöschte jüdische Gemeinde. Sie soll gegen Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit wirken. Die Bezirksvertretung 9 hatte am 28. November 2023, unter dem Eindruck des Hamas-Überfalls auf Israel, einstimmig den Antrag der Fraktion der Grünen angenommen. Ein gutes Jahr später fand die Enthüllung der Tafel statt.
Bezirksbürgermeisterin Gabriele Kipphardt sprach vom „brutalen Angriff der Hamas“ und von „zahlreichen antisemitischen Ausschreitungen überall auf der Welt“. Die Kommunalpolitik wolle „im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten“ dazu beitragen, eine Auseinandersetzung mit der Geschichte anzustoßen: „Der jüdischen Gemeinde in Werden als ehrendes Andenken.“
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Straßennamen und Stolpersteine für deportierte jüdische Mitbürger
Ihr Stellvertreter Ludger Hicking-Göbels blickte in die Runde: „Ganz schön viele Menschen sind heute hier. Das freut mich.“ Zu danken sei Marc Mülling und Thomas Schwarzkopf, die mit ihren Geschichtskenntnissen Hilfen gaben bei Erstellung der Tafel. Es habe den Gedanken gegeben, nun endlich eine Erinnerungsstätte an die 1808 von Joseph Herz gegründete jüdische Gemeinde in Werden zu schaffen, die seit 1942 faktisch nicht mehr bestehe.
Die Straßen Simonaue und Leopold-Simon-Straße erinnern an die Familie Simon, der Joseph-Herz-Weg an den Gründer der jüdischen Gemeinde. Es gibt Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig und den mehrmals geschändeten jüdischen Friedhof auf dem Pastoratsberg. Dort haben um die 130 Juden und Jüdinnen ihre letzte Ruhe gefunden. Aber einen zusammenhängenden, informierenden Text im öffentlichen Raum zur Geschichte und Bedeutung zur Gemeinde habe es bisher nicht gegeben. Nirgendwo werde das Wirken jüdischer Mitbürger in Werden „angemessen und dauerhaft“ gewürdigt, so Hicking-Göbels.
Tafel erinnert an das Schicksal der Familien Simon und Rindskopf
Zum Beispiel die Familien Simon und Rindskopf. Während der Weimarer Republik gaben sie bis zu 800 Menschen Arbeit. Beide Familien waren karitativ sehr engagiert und sprachen auch politisch ein Wort mit. So war zum Beispiel Leopold Simon Gründungsmitglied des Verschönerungsvereins, heute Bürger- und Heimatverein. Er war Vorsteher der jüdischen Gemeinde und der erste jüdische Stadtverordnete in Werden.
Unter seinen Söhnen Ernst und Otto avancierte das Unternehmen „Döllken“ zum größten Kunstleistenproduzenten Europas. Mit 600 Beschäftigten, Werksfeuerwehr, der überkonfessionellen Leopold-Simon-Stiftung zur Säuglingsfürsorge, sogar einem eigenen Fußballverein SV Werden 08 Döllken. Unter dem Druck der Nazis wurde das Werk 1938 arisiert.
Auch die Wäschefabrik Rindskopf bot Hunderten von Werdenern Arbeit. Hans Rindskopf gehörte zu den letzten Juden in Werden, hatte das Down-Syndrom, wurde 1942 wie vier andere noch verbliebene Juden deportiert und ermordet. Sally Steeg vom Kaufhaus Rosenbaum war ein angesehener Kaufmann und Mitglied im Einzelhandelsverband, einem Vorläufer des heutigen Werberings. Und doch sei der letzte Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von der Werdener SA durch die Straßen getrieben worden, mit einem Schild um den Hals durch die Straßen geführt. Auf diesem Schild stand: „Ich bin Jude, spuckt mich an.“ Beide Kaufhäuser wurden in der Pogromnacht zerstört.
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Die meisten jüdischen Familien hätten im näheren Umkreis des Leinwebermarktes, früher Flachsmarkt, gelebt. In der Pogromnacht vor 86 Jahren wurden jüdische Geschäfte zerstört: „Auch von Werdenern.“ Die Stelle sei auch deswegen gewählt worden, da dort mit dem Haus Bungertstraße 32 noch das letzte von den Nationalsozialisten zum „Judenhaus“ gemachte Gebäude erhalten sei. Von hier aus seien die letzten Werdener Juden deportiert worden, sagte Ludger Hicking-Göbels. Umso dringlicher sein Appell: „Antisemitismus wird wieder öffentlich. Wir setzen ein Zeichen gegen Geschichtsvergessenheit.“
Nach dem Krieg herrschte das große Schweigen in den Familien
Für Karl-Heinz Lach vom Geschichts- und Kulturverein war das Beschäftigen mit der NS-Zeit untrennbar mit großen Verschweigen in der Öffentlichkeit, aber auch in den Familien verbunden. „Es muss doch langsam mal Schluss sein“, hätte er von den Eltern gehört, von den Großeltern. Solche Stimmen seien bis heute nicht verstummt.
„Gerade nach dem Pogrom in Amsterdam braucht es eine wehrhafte Demokratie und wehrhafte Bürger, wie ich es hier in Werden erlebe. ‚Nie wieder‘ ist jetzt.“
Doch Lach ist zutiefst überzeugt: „Die Shoa ist unbegreiflich für uns. Sie darf nicht in Vergessenheit geraten.“ Er führte aus: „Vielfalt ist der Motor, der Natur und Kultur antreibt. Durch den Holocaust ist das jüdische Leben aus Werden vertrieben worden. Und nicht zurückgekehrt. Das ist schade.“ Er rege einen Werdener „Pfad der Erinnerung an das jüdische Leben“ an. Der Geschichts- und Kulturverein werde sich da gerne einbringen.
Essens Bürgermeister Rolf Fliß zeigte sich erfreut über den großen Zuspruch für die Gedenkveranstaltung und lobte „den Mut, gerade in jetzigen Zeiten“ solch eine Gedenktafel aufzustellen, und zog den Kreis größer: „Gerade nach dem Pogrom in Amsterdam braucht es eine wehrhafte Demokratie und wehrhafte Bürger, wie ich es hier in Werden erlebe. ‚Nie wieder‘ ist jetzt!“
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