Essen-Werden. Ein dampfender Stahlkoloss erinnert in Mannheim an ein Stück jüdischer Firmengeschichte aus Essen-Werden. Wie die Maschine dorthin gekommen ist.

Wie funktioniert eine Dampfmaschine? Das kann man zum Beispiel im „Technoseum“ in Mannheim erleben. Dort steht ein 13 Meter langes und 80 Tonnen schweres Exemplar, das noch regelmäßig in Betrieb gesetzt wird. Aufgrund ihrer Ausmaße wurde die Kolbendampfmaschine aber nicht dort hinein gehoben, sondern das Museum wurde 1987 um das Exponat herumgebaut. Doch dies ist nicht die einzige Besonderheit: Denn erst seit kurzem ist bekannt, dass die Dampfmaschine einst Strom für ein Unternehmen aus Werden produzierte.

Lange war Dr. Daniel Römer, der als Kurator gerade die Geschichte der Dampfmaschine aufarbeitet, nicht klar, was es mit den Buchstaben „DÖ“ auf sich hat. Diese Lettern sind an einem Zwischendampf-Entnahmeregler eingraviert. Erst als er den „Werdegang“ des 1908 erbauten Kolosses rekonstruierte, kam Römer auf die Firma Döllken.

Wirtschaftlich erfolgreich mit Holzverarbeitung

Das Unternehmen ist schon im Jahr 2000 aus Werden weggezogen, das einstmals 80.000 Quadratmeter große Firmengelände an der Ruhrtalstraße ist nun größtenteils mit Eigenheimen bebaut. Auch Gewerbebetriebe haben eine neue Heimat auf dem Areal an den Bahngleisen gefunden. „Die Maschine war bis in die 80er Jahre im Betrieb. Sie in ein Museum zu geben, war wohl der beste Weg“, sagt Marc Mülling.

Marc Mülling an der Leopold-Simon-Straße. Seit 20 Jahren erforscht er die Geschichte der Juden in Werden.
Marc Mülling an der Leopold-Simon-Straße. Seit 20 Jahren erforscht er die Geschichte der Juden in Werden. © FUNKE Foto Services | Uwe Ernst

Der 64-jährige Werdener ist Hobbyhistoriker, forscht seit gut 20 Jahren insbesondere über die Firma Döllken und die jüdische Familie Simon. Mülling konnte dem Kurator des Mannheimer Technikmuseums wertvolle Hinweise geben.

So ist bekannt, dass Döllken die Dampfmaschine 1920, als das Unternehmen wirtschaftlich bereits sehr erfolgreich war, erwarb. Zunächst fertigte man in Werden Holzteile für die Möbelherstellung, später vor allem Holzleisten.

Eine Luftaufnahme von 1927 der Döllken-Werke: Damals war die Firma ein Global Player.
Eine Luftaufnahme von 1927 der Döllken-Werke: Damals war die Firma ein Global Player. © FUNKE Foto Services | Uwe Ernst (Repro)

Gegründet wurde das Unternehmen 1887 von Wilhelm Döllken, einem Möbelschreiner, und von Leopold Simon. Letzterer kümmerte sich um die Finanzierung. Als sein Kompagnon schon 1988 verstarb, wurde Leopold Simon alleiniger Geschäftsführer – ohne den Firmennamen zu ändern.

Sorgte ab 1920 für Strom: die große Dampfmaschine im Werkskraftwerk von Döllken.
Sorgte ab 1920 für Strom: die große Dampfmaschine im Werkskraftwerk von Döllken. © Wilhelm Poetter

Die Firma war ein Global Player in den 1920er Jahren

Zwei seiner Söhne, Ernst und Otto Simon, betrieben die Firma nach dem Tod des Vaters im Jahr 1906 weiter. Alles wuchs rasant, ein neues Sägewerk und ein Holzverarbeitungswerk entstanden – und die gebraucht erworbene Dampfmaschine mit Generator und 750 PS Leistung übernahm die Energieversorgung. „In den 1920er-Jahren war Döllken ein Global Player“, erklärt Daniel Römer, der die Sammlungsbestände rund um das Thema Energie im „Technoseum“ betreut.

„Das Unternehmen war im Großhandel tätig und importierte Holz in großem Stil, unter anderem aus Nordeuropa und Südamerika.“ Ernst Simon habe das Wachstum des Unternehmens mit Innovationen vorangetrieben, so Römer. „Er erfand eine Maschine zur maschinellen Herstellung von Leisten. Außerdem führte er eine Prozesssteuerung für fabrikinterne Arbeitsabläufe ein.“

Die Lettern „DÖ“, hier am Zwischendampf-Entnahmeregler, weisen auf die Firma Döllken hin.
Die Lettern „DÖ“, hier am Zwischendampf-Entnahmeregler, weisen auf die Firma Döllken hin. © Klaus Luginsland

„Döllken war zudem einer der größten Arbeitgeber in Werden mit über 600 Mitarbeitern“, weiß Marc Mülling zu berichten. Die in Werden ansässige jüdische Bankiersfamilie Hirschland sei zwar in der Öffentlichkeit präsenter, „aber die Simons haben hier eher vor Ort gewirkt, waren politisch und sozial aktiv.“ Ernst Simon saß u.a. im Stadtrat von Werden. Zu seinen Freunden zählte der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann.

Die Firma wurde 1938 arisiert – der Name bleibt lebendig

Doch auch Döllken wurde unter den Nazis arisiert: 1938 musste Ernst Simon die Firmenanteile weit unter Wert an einen bayerischen Holzhändler verkaufen. Sein Bruder Otto kam im KZ Bergen-Belsen ums Leben. In anderen Lagern wurde weitere Familienmitglieder ermordet. Ernst starb 1945 verarmt in den USA. Vier Jahre später erreichte seine Familie eine Wiedergutmachung und 62 Prozent der Firmenanteile, die sie weiterverkaufte.

Das Hochzeitsfoto von Ernst und Else Simon (1901). Die Nachfahren wohnen in den Niederlanden und den USA.
Das Hochzeitsfoto von Ernst und Else Simon (1901). Die Nachfahren wohnen in den Niederlanden und den USA. © Alte Synagoge Essen

Nach Ottos Gattin Else Bertha Simon wurde in Anerkennung ihrer sozialen Aktivitäten die Straße Simonaue benannt. Im Neubaugebiet auf dem früheren Döllken-Gelände erinnert – auf Vorschlag Marc Müllings – die Leopold-Simon-Straße an den Unternehmer.

Für Mülling und Römer ist die Forschungsarbeit damit noch lange nicht beendet. Zu den Nachkommen, die in den Niederlanden und den USA leben, haben beide Kontakt. „Die Witwe von Kurt Simon, Sohn von Ernst Simon, hat eine Homepage erstellt, auf der die Familiengeschichte nachzulesen ist“, so Mülling. Er hoffe, das Andenken an die Simons und andere jüdische Familien in Werden werde weitergetragen und lebendig gehalten. So wie die Dampfmaschine, die noch regelmäßig vorgeführt wird.

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