Essen-Werden. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel zeigt sich auch in Essen offener Antisemitismus. Nicht nur deshalb möchte man in Werden ein Zeichen setzen.

Ein Blick auf die Deportationsliste des Sonderzugs „Da 52“ lässt das Grauen erahnen. Sorgfältig abgehakt von den Vollstreckern des Holocausts, finden sich auf der Liste die Namen der fünf letzten noch in Werden lebenden Juden: Sophie und Ruth Baum, Jacob und Berta Herz sowie Hans Rindskopf, der das Down-Syndrom hatte und einen Monat vorher seine Mutter Henriette verlor.

In Werden soll nun eine Erinnerungstafel an die ausgelöschte jüdische Gemeinde erinnern und so gegen Antisemitismus und Geschichtsvergessenheit wirken. Die Bezirksvertretung 9 stimmte geschlossen für diesen Antrag der Fraktion der Grünen.

Transport ging von Düsseldorf in die Vernichtungslager

Die Abfahrt vom Düsseldorfer Schlachthof war am Mittwoch, 22. April 1942, um 11.06 Uhr. Für knapp tausend jüdische Männer und Frauen ging die zweitägige Zugfahrt ins besetzte Polen. Es war für sie eine Fahrt in den Tod, denn vom Durchgangs-Ghetto Izbica aus wurden sie in die Vernichtungslager Bełżec, Majdanek und Sobibór verschleppt. In der Einwohnerkartei wurde lakonisch vermerkt, dass die Bewohner das „Judenhaus Bungertstraße 32“ verlassen hätten und nach Polen „abgewandert“ seien.

Ein Foto vom alten Flachsmarkt (Sammlung Lortz). Etwa dort, wo die beiden Jungen stehen, soll künftig die Gedenktafel für die jüdische Gemeinde installiert werden.
Ein Foto vom alten Flachsmarkt (Sammlung Lortz). Etwa dort, wo die beiden Jungen stehen, soll künftig die Gedenktafel für die jüdische Gemeinde installiert werden. © Daniel Henschke (Repro)

Der erste stellvertretende Bezirksbürgermeister Ludger Hicking-Göbels (Grüne) steht vor diesem Werdener Haus mit der tragischen Geschichte: „Nach dem entsetzlichen Angriff der Hamas auf Israel, in dessen Folge sich in Deutschland und leider auch in unserer Stadt Essen offener Antisemitismus gezeigt hat, ist es uns wichtig, über aktuelle Solidaritätsbekundungen hinaus ein dauerhaftes, klares Zeichen zu setzen.“ Bis heute fehle ein zusammenhängender, informierender Text zur Geschichte und Bedeutung der Juden in Werden. Da die Reichsabtei in den Jahrhunderten zuvor keinen Zuzug zugelassen hatte, war hier erst 1808 durch Joseph Herz eine jüdische Gemeinde gegründet worden.

Es ist uns wichtig, über aktuelle Solidaritätsbekundungen hinaus ein dauerhaftes, klares Zeichen zu setzen.
Ludger Hicking-Göbels, stellvertretender Bezirksbürgermeister

Familie Simon gab in ihrer Fabrik 600 Menschen Arbeit

Anfeindungen wie eine „antisemitische Versammlung“ im Juli 1894 kündigten das Unheil bereits an. Bis zu Hitlers Machtergreifung waren die Werdener Juden aber durchaus angesehene Mitbürger. Die Familie Simon zum Beispiel gab in ihrer Firma „Döllken“ bis zu 600 Menschen Arbeit. Familienmitglieder wirkten karitativ, gründeten Vereine mit und saßen im Stadtrat.

Eine „Antisemitische Versammlung zu Werden“ wurde bereits im Juli 1894 in einer Zeitung angekündigt. Dabei waren die Juden damals noch angesehene Mitbürger in der Abteistadt.
Eine „Antisemitische Versammlung zu Werden“ wurde bereits im Juli 1894 in einer Zeitung angekündigt. Dabei waren die Juden damals noch angesehene Mitbürger in der Abteistadt. © Daniel Henschke (Repro)

Davon wissen wir durch den Werdener Marc Mülling, der intensiv zu den hiesigen Juden und besonders zur Familie Simon forscht. Die Straßennamen Simonaue und Leopold-Simon-Straße erinnern an die Familie, der Joseph-Herz-Weg an den Gründer der jüdischen Gemeinde. Es gibt Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig und den mehrmals geschändeten jüdischen Friedhof auf dem Pastoratsberg.

An der Bungertstraße wird seit 2010 mit Stolpersteinen an Sophie und Ruth Baum erinnert.
An der Bungertstraße wird seit 2010 mit Stolpersteinen an Sophie und Ruth Baum erinnert. © Daniel Henschke

Am Klemensborn gab es eine große Schürzenfabrik

Der Kaufmann Philipp Baum hatte die „Werdener Fischhalle“ im Haus Bungertstraße 47, welches der Familie Rindskopf gehörte, die am Klemensborn eine große Schürzenfabrik mit bis zu 200 Angestellten betrieb. Es gibt ein Foto des Ladens mit Philipp Baum vor der Tür. Vermutlich steht Sophie Baum hinter dem Fenster. Nach Philipps Tod 1932 lebten seine Witwe und ihre Stiefkinder Egon-Sally und Ruth weiter dort. Vier Jahre später zog Egon-Sally weg, im Juli 1938 siedelten Sophie und Ruth um in die Bungertstraße 32. Sie betrieben dort ein kleines Lebensmittelgeschäft, welches aber in der Pogromnacht zerstört wurde.

Ein Jahr später mussten sie Samuel Rosenbaum und seine Familie aufnehmen. Ihm, seiner Frau Hedwig und Tochter Ilse gelang im November 1939 die Flucht in die USA. Tochter Herta blieb und zog ins Haus ihrer verstorbenen Tante Minna an der Brückstraße 8-10, dann verliert sich ihre Spur.

Vertriebene Juden lebten im Haus Bungerstraße 32

Anfang 1940 kamen weitere vertriebene Juden in die Bungertstraße: Bernhard und Liselotte Katz sowie Richard Rothschild stammten aus Köln und waren im jüdischen Altenheim „Rosenau“ oben auf dem Pastoratsberg tätig. Vermutlich arbeiteten sie dort als Pfleger.

Auf dem Pastoratsberg befindet sich noch heute der jüdische Friedhof.
Auf dem Pastoratsberg befindet sich noch heute der jüdische Friedhof. © Daniel Henschke

Im März 1941 zogen noch Jacob und Berta Herz in das „Judenhaus“. Bernhard und Liselotte Katz siedelten im August nach Düsseldorf um, ihr Schicksal ist unbekannt. Richard Rothschild zog mehrmals um, bis er im März 1943 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet wurde.

Sophie und Ruth Baum sowie Jacob und Berta Herz lebten abgeschottet von der „arischen Volksgemeinschaft“. Ab September 1941 mussten sie den Judenstern tragen. Sie müssen das Schreckliche erahnt haben: Am 16. April 1942 heiratete Ruth noch Walter Cussel, wohl in der verzweifelten Hoffnung, bei der kurz bevorstehenden Deportation nicht getrennt zu werden.

Erinnerungstafel an der Heckstraße benennt nur „Kultraum“

Ludger Hicking-Göbels benennt die Gründe, weshalb als Standort einer zentralen Gedenktafel der Leinwebermarkt vorgeschlagen wurde, der vor 1937 Flachsmarkt hieß und bereits 1581 urkundlich erwähnt wurde: „Die meisten Häuser, die Juden gehörten, sind mit der Flächen- und Stadtsanierung der 1960er Jahre verschwunden. Hier am Leinwebermarkt und im nahen Umkreis haben viele Werdener Juden mit ihren Familien gelebt.“ Bis sie ausgegrenzt, drangsaliert und schließlich zu einem großen Teil ermordet wurden.

Die meisten Häuser, die Juden gehörten, sind mit der Flächen- und Stadtsanierung der 1960er Jahre verschwunden.
Ludger Hicking-Göbels, stellvertretender Bezirksbürgermeister

Im Übrigen ist der Ortspolitiker regelrecht erbost darüber, dass die kleine Erinnerungstafel an der Heckstraße einen „Kultraum der Jüdischen Gemeinde von 1887 bis 1938“ benennt: „Zunächst einmal stimmen die Jahreszahlen nicht und außerdem halte ich den Begriff eines Kultraums für nicht angemessen. Hier fand ein Kleinmachen, ein Herabsetzen statt. Es handelte sich um eine vielleicht nicht große, aber eben doch um eine Synagoge.“ Man schreibe an eine Kirche ja auch nicht „Kultraum der Christlichen Gemeinde“.

[Essen-Newsletter hier gratis abonnieren | Folgen Sie uns auch auf Facebook, Instagram & WhatsApp | Auf einen Blick: Polizei- und Feuerwehr-Artikel + Innenstadt-Schwerpunkt + Rot-Weiss Essen + Lokalsport | Nachrichten aus: Süd + Rüttenscheid + Nord + Ost + Kettwig und Werden + Borbeck und West | Alle Artikel aus Essen]