Essen-Bredeney. Der Essener Laurenz Schmitz lebte ein Jahr in Israel. Dort traf er die Holocaust-Überlebende Eva Wittenberg, bis sie im Juli verstarb.

Eigentlich stünde für die 9c der Goetheschule in Essen-Bredeney jetzt eine Stunde katholischer Religionsunterricht bei Herrn Franke an, aber heute gibt es besonderes Programm: Die Schülerinnen und Schüler dürfen dem Vortrag eines ehemaligen Mitschülers lauschen. Laurenz Schmitz, 19 Jahre alt, ehemaliger Schülersprecher an der Goetheschule, sitzt heute vorne am Lehrerpult. Um den Hals trägt er den rot-schwarz gestreiften Fan-Schal der Jerusalemer Fußballmannschaft „Hapoel Jerusalem“.

Essener berichtet: So lief sein Jahr als Freiwilliger in Jerusalem

Schmitz hat das vergangene Jahr in Jerusalem verbracht, ist erst vor wenigen Monaten zurückgekehrt: Nach seinem Abitur vergangenes Jahr machte er dort mit 20 anderen Freiwilligen ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei der Organisation „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“. Er lebte in einer Sechser-WG in Jerusalem und war während seines Auslandsjahres in verschiedene Projekte eingebunden, unter anderem leistete er Archiv- und Dokumentationsarbeit an der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Ein weiteres Projekt des ehemaligen Schülers: wöchentliche Besuche bei den Holocaust-Überlebenden Erika Gal und Eva Wittenberg, die tragischerweise im Sommer verstorben ist. Schmitz unterhielt sich mit den Frauen, oft stundenlang, vor allem über Alltägliches. „Die Holocaust-Überlebenden waren die freundlichsten Menschen, die ich je getroffen habe“, erzählt Schmitz den Schülerinnen und Schülern der 9c.

Beide Frauen hätten ihre eigene, bewegende Geschichte gehabt. Eva Wittenberg war bereits 98 Jahre alt, als sie im Juli 2023 plötzlich verstarb: „Mich hat es unvorbereitet getroffen und ich war sehr traurig“, sagt Schmitz über Wittenbergs Tod. Zwischen den beiden habe sich über die Monate eine schöne, besondere Freundschaft entwickelt.

Wöchentliche Treffen mit Holocaust-Überlebenden Eva Wittenberg und Erika Gal

Eva Wittenberg wurde in Breslau geboren und floh 1939 über Liverpool nach Chile, wo sie bis zu Pinochets Machtantritt 1973 blieb. Dann floh sie wieder, diesmal nach Israel, wo sie bis zu ihrem Tod wohnte. Wenn Schmitz Deutsch mit ihr sprach, habe das oft ihre Kindheitserinnerungen hervorgeholt: „Sie hat erzählt, dass sie damals oft die Mädchen vom Bund Deutscher Mädel beim Sport machen gesehen hat und neidisch war, dass sie nicht mitmachen durfte“, erzählt Schmitz.

Mit der 95-jährigen Erika Gal stehe er bis heute in Kontakt, habe vor wenigen Wochen noch mit ihr telefoniert. Gal wurde im heutigen Rumänien geboren und lebte während der Nazi-Zeit im Ghetto. 1958 wanderte sie mit Mann, Kind und Eltern nach Israel aus. Wirklich religiös ist sie laut Schmitz nie gewesen: „Erika hat immer gesagt, sie glaubt nicht an Gott, aber sie glaubt an die guten Menschen“, so Schmitz.

Nahost-Konflikt: Essener kehrt wenige Wochen vor Kriegsbeginn aus Jerusalem zurück

Als am 7. Oktober 2023 der Krieg im Nahen Osten begann, war Schmitz schon seit ein paar Wochen wieder in Deutschland – ansonsten hätte er das Land sowieso verlassen müssen, sagt er. Aktuell seien keine Freiwilligen der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ in Israel.

Der Krieg ist auch ein Grund, warum Schmitz heute vor den Schülern über seine Erfahrungen spricht: Er möchte den Schülerinnen und Schülern sein Wissen über Israel und besonders über jüdisches Leben mitgeben. „Im Osten Jerusalems leben viele Palästinenser, der Westen ist sehr jüdisch geprägt“, erzählt er zum Beispiel. Und: „Im jüdischen Glauben müssen Männer eine Kippa tragen und verheiratete Frauen eine Perücke“, sagt er. Hier gebe es allerdings große Unterschiede zwischen orthodoxen Juden, von denen es viele in Jerusalem gebe, und liberalen Jüdinnen und Juden, von denen die meisten in Tel Aviv anzutreffen seien. Bei liberalen Jüdinnen und Juden sei es sogar erlaubt, dass auch Frauen eine Kippa trügen, oder die Kippa ganz wegzulassen.

Laurenz Schmitz (l.) erzählt den Schülerinnen und Schülern der 9c an der Goetheschule im Religionsunterricht von seinem Auslandsaufenthalt in Israel.
Laurenz Schmitz (l.) erzählt den Schülerinnen und Schülern der 9c an der Goetheschule im Religionsunterricht von seinem Auslandsaufenthalt in Israel. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Die Schüler stellen viele Fragen: „Wie ausgeprägt sind Sicherheit und Nächstenliebe in Israel?“, fragt zum Beispiel ein Jugendlicher. Schmitz antwortet, dass er sich trotz der chaotischen und konfliktgeladenen Stimmung in Jerusalem immer sicher gefühlt habe. Es habe überall ein großes Sicherheitsaufgebot gegeben. Außerdem müsse jeder Israeli nach der Schule zwei oder drei Jahre Wehrdienst leisten. „Die Stadt ist super angespannt und chaotisch“, sagt er. Die ständigen Spannungen zwischen Israelis, Palästinensern, aber auch orthodoxen und liberalen Juden seien jederzeit erlebbar gewesen.

Essener über Nahost-Konflikt: „Es gibt hunderte Facetten und Strömungen“

Die Schüler haben noch weitere Fragen, zum Beispiel möchten sie wissen, welche Sprache man in Israel spricht, wie ein Gottesdienst in einer Synagoge abläuft, wie tolerant Jüdinnen und Juden gegenüber schwulen, lesbischen und transgeschlechtlichen Menschen sind und wie das Verhältnis zwischen Palästinensern und Israelis sich grundsätzlich beschreiben lässt. Schmitz erzählt von seinen eigenen Erfahrungen: Er habe während seines Auslandsjahres selbst ein bisschen Hebräisch gelernt, sich aber auch gut auf Englisch verständigen können. Er erzählt, dass Tel Aviv die Hauptstadt der Schwulen- und Lesbenbewegung im Land sei und dass viele der orthodoxen, traditionellen Jüdinnen und Juden in Jerusalem lebten. Mit Palästinensern sei er während seines Auslandsjahres kaum in Kontakt gekommen.

Die Fragen rund um den Nahost-Konflikt beantwortet Schmitz zurückhaltend: Er sei selbst kein Experte zu dem Thema und der Konflikt sei sehr vielschichtig, sagt er. Außerdem seien sich auch die Menschen im Land bei vielen Dingen uneinig. „Es gibt hunderte Facetten und Strömungen im Land“, sagt er. Seit dem 7. Oktober, dem Beginn des Krieges, gebe es in Israel zum Beispiel auch eine große Friedensbewegung.

Essener macht Ausbildung zum Museums-Führer in der Großen Synagoge

Sein Aufenthalt in Jerusalem habe bei Schmitz auch die Aufmerksamkeit für Antisemitismus in Deutschland geweckt: Seit seiner Rückkehr engagiert er sich hier in Deutschland gegen Antisemitismus. Gerade macht er eine Ausbildung als Museums-Guide in der Alten Synagoge in Essen. Nächstes Jahr steht ein Praktikum in der Bundeszentrale für politische Bildung auf dem Plan. Irgendwann möchte Schmitz beruflich im Bereich der politischen Bildung tätig sein.

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