Essen. Die Zahl der Fehltage ist stark gestiegen – ist daran die telefonische Krankschreibung schuld? Das sagen Ärzte und Unternehmer in Essen.
Die stark gestiegene Zahl der Fehltage hat eine Debatte ausgelöst, wie man Abhilfe schaffen könne. Auch der Essener Unternehmensverband (EUV) schaut mit Sorge auf den hohen Krankenstand: Dieser sei mitverantwortlich, dass Betriebe „an ihre Grenzen kommen“, der wirtschaftliche Schaden dürfte „ins Unermessliche gehen“, sagt EUV-Hauptgeschäftsführer Ulrich Kanders. Die telefonische Krankschreibung sehe man vor diesem Hintergrund kritisch. Die Essener Ärzteschaft möchte daran jedoch festhalten.
Krankenstand stellt Betriebe vor fast unlösbare Herausforderungen
Unbestritten ist, dass die Zahl der Fehltage auch in Essen jüngst ein Rekordniveau erreichte: Im Jahr 2023 waren die Beschäftigten laut einer Erhebung der „Barmer“ im Schnitt an 23,7 Tagen krankgeschrieben. In diesem Jahr bleibt die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) hoch: „Von Januar bis Juni war jeder und jede Beschäftigte in der Region Essen durchschnittlich rund 11,2 Tage krankgeschrieben“, sagt die DAK-Gesundheit mit 30.000 Versicherten in Essen.
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„Fakt ist, dass der derzeitige Krankenstand in Kombination mit dem starken Fachkräftemangel unsere Betriebe vor fast unlösbare Herausforderungen stellt“, sagt EUV-Geschäftsführer Kanders. „Aufträge können nicht abgearbeitet, Dienstleistungen in praktisch jeder Branche nicht erbracht werden, Kinder nicht betreut und Patienten nicht gepflegt werden.“ Mitunter seien Standortschließungen der einzige Ausweg.
„Aufträge können nicht abgearbeitet, Dienstleistungen in praktisch jeder Branche nicht erbracht werden, Kinder nicht betreut und Patienten nicht gepflegt werden.“ “
Ob Krankschreibungen nach Arztbesuch oder Anruf zustande kommen, wisse der Arbeitgeber nicht, so Kanders. „Die neuen online-basierten AU-Bescheinigungen für gesetzlich Versicherte lassen zudem nicht mehr den ausstellenden Arzt erkennen“. Der Betrieb kenne also weder die Diagnose noch das Fachgebiet des Arztes. Aus Sicht des EUV sei aber zumindest denkbar, „dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen der telefonischen Krankschreibung und den zuletzt enorm gestiegenen Krankenstands-Zahlen geben könnte“.
Unternehmer sehen Krankschreibung per Telefon kritisch
Wer „blau machen“ wolle, könne das so oder so, räumt Kanders ein, doch die Krankschreibung per Telefon erleichtere es, weil der Arzt allein den Angaben des Patienten vertrauen müsse. „Dem hohen Beweiswert einer ordnungsgemäß festgestellten Arbeitsunfähigkeit kann nur eine persönliche ärztliche Untersuchung gerecht werden.“ Die im EUV vertretenen Betriebe würden daher gern zur alten Regelung zurückkehren, in der Hoffnung, „die Ausfallzeiten irgendwie zu reduzieren“.
Krankschreibung vom Digital-Doc
Eine Krankschreibung per Telefon sei zwar niederschwelliger als der Gang in die Arztpraxis, sagt der Essener Unternehmensverband (EUV). Aber immerhin gelte diese Option nur für Patienten, die der Arztpraxis bekannt sind. „Für viel problematischer halten wir Onlineportale, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen per Klick für wirklich kleines Geld anbieten“, sagt daher der EUV-Geschäftsführer Ulrich Kanders.
Da könne man etwa wählen, wie lange man krankgeschrieben sein möchte, ob es sich um eine Folge-AU handele usw. Er nennt beispielhaft einen Anbieter, bei dem man ganz ohne Gespräch mit einem Arzt für 29 Euro eine AU bekommt, mit Gespräch kostet sie 19 Euro. Für ein paar Euro mehr bekomme man einen richtigen Schein nach Hauses geschickt, ansonsten werde der elektronisch erstellt, sagt Kanders. „Dieses Thema beschäftigt die Unternehmen in einem hohen Maß.“
Ein Seminar, das der EUV seinen Mitgliedsunternehmen dazu angeboten habe, sei auf sehr große Nachfrage gestoßen. „Was deutlich macht, dass viele Personalabteilungen schon mit einer solchen gefälschten AU in Berührung gekommen, aber auch oft hilflos sind, wie man damit arbeitsrechtlich umgehen kann.“ Kanders fordert: „Hier muss der Gesetzgeber schärfer eingreifen und diese Portale verbieten bzw. schließen.“
Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KVNO) Essen, Dr. Tobias Ohde, stimmt Kanders zu: „Das ist ein absolutes No-Go. Alle Kollegen sagen, dass man da einen Riegel vorschieben müsse.“
Der Ärzteschaft sei die Problematik bewusst, betont Dr. Tobias Ohde. Der Mediziner ist Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung (KVNO) Essen und sagt über seine Kollegen und Kolleginnen: „Sie gehen verantwortungsvoll und vorsichtig mit der telefonischen Krankschreibung um.“ Mit der Entscheidung, ob jemand arbeitsfähig ist oder nicht, berühre man ja nicht allein die Belange des Patienten: „Wir können in das Arbeitsverhältnis zwischen Beschäftigtem und Arbeitgeber hineingrätschen. Damit geht eine hohe Verantwortung einher.“
„Sie gehen verantwortungsvoll und vorsichtig mit der telefonischen Krankschreibung um.“
Unterdessen übersähen manche Beschäftigte wohl, dass die Gesellschaft die Kosten für krankheitsbedingte Ausfälle trage, so Ohde. Früher hätten Patienten schon mal gesagt, sie hätten das ganze Jahr nicht gefehlt, da könne er sie doch eine Woche krankschreiben. So unverblümt habe das lange niemand mehr formuliert, doch dass jemand am Telefon schwere Symptome schildere, während er gerade zum Shoppen unterwegs sei, komme vor. Er fordere denjenigen dann auf, arbeiten zu gehen. „Dadurch verliert man auch mal Patienten. Aber das ist okay.“
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Auch bei seinen Kollegen erhalte nicht jeder eine AU am Telefon: Werfe das Gespräch Fragen auf, bestelle man den Anrufer in die Praxis. Es gebe indes auch Patienten, die mit Verweis auf Personalmangel in der Firma bitten, möglichst kurz krankgeschrieben zu werden, sagt Ohde. Und: In vielen Fällen entlaste die Krankschreibung per Anruf die Praxen und verhindere, dass sich infektiöse Patienten ins Wartezimmer setzen. „Wir möchten das Instrument daher gern behalten. Mit der Vorsicht, sorgfältig abzuwägen, ob jemand arbeitsunfähig ist.“
„Es kommt mal vor, dass ein sekundärer Krankheitsgewinn im Raum steht.“
Dr. Lutz Rothlübbers, der in einer Gemeinschaftspraxis in Katernberg tätig ist, hält die telefonische Krankschreibung aus den von Ohde genannten Gründen ebenfalls für sinnvoll. Er betont: „Als Hausärzte haben wir ein Vertrauensverhältnis zu unseren Patienten und glauben ihnen, wenn sie anrufen und sagen, dass sie unter Durchfall und Erbrechen leiden.“ Das gelte ja auch, wenn jemand ihm gegenüber sitze und schwere Kopfschmerzen schildere.
Hausarzt lehnt vorsorgliche Krankschreibung ab
„Es kommt mal vor, dass ein sekundärer Krankheitsgewinn im Raum steht“, erzählt Rothlübbers. Etwa wenn jemand bei einer Impfung um eine „vorsorgliche“ Krankschreibung bitte, für den Fall, dass er sich später angeschlagen fühlen sollte. Bei solchen Bitten erkläre er, warum er die AU für nicht notwendig halte. Rothlübbers betont aber: „Die Zahl telefonischer Krankschreibungen ist zuletzt nicht explodiert.“
Der Unternehmensverband beurteilt das ähnlich: „Ein Blaumachen per Telefon sehen wir nicht als neues Massenphänomen in der Arbeitswelt.“ Der EUV erkennt zudem die Vorteile für die Praxen an, mahnt jedoch: „Die telefonische Feststellung von Arbeitsunfähigkeiten – außerhalb von pandemischen Zeiten – halten wir in der Breite für ungeeignet.“
Unternehmer haben Sympathie für Teilzeit-Krankschreibung
Sympathie hat Kanders für die jüngst diskutierte Teilzeit-Krankschreibung: „Eine solche könnte aus Arbeitgebersicht durchaus Sinn machen, zum Beispiel eine AU-Bescheinigung für einige Stunden am Tag, oder eine, die es dem mobil eingeschränkten oder infektiösen Patienten ermöglicht, zumindest vom Home-Office aus zu arbeiten.“ Bei der Wiedereingliederung kenne man solche Abstufungen, sagt Tobias Ohde: „Ansonsten sehe ich Teilzeit-Krankschreibungen skeptisch.“
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