Essen. Ein Essener Arzt setzt für seine Alzheimer-Patienten Hoffnung in neue Medikamente. Er ärgert sich, dass diese in der EU nicht zugelassen sind.
Es war ein Vorschlag, der zu einem Familienzwist führte: Als ihre Töchter sie baten, einen Termin in der Demenz-Sprechstunde der Uniklinik Essen zu vereinbaren, wehrte sich Erika (76) vehement: „Ich habe gesagt: Ihr seid verrückt. Ich gehe da nicht hin.“ Ein typisches Szenario, sagt der Direktor der Klinik für Neurologie, Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz. „Dabei ist es gut, wenn eine demenzielle Erkrankung früh erkannt wird.“
Keine Heilung, und doch ein Durchbruch in der Alzheimer-Therapie
Kleinschnitz treibt das Thema um, anlässlich des Welt-Alzheimer-Tages im September weist er darauf hin, dass in den USA bereits drei Medikamente zugelassen sind, „die man vor allem in frühen Stadien der Erkrankung einsetzen kann“. Die neuen Antikörper zielen auf schädliche Proteinablagerungen (Amyloid-Plaques) im Gehirn ab. Die Infusionen könnten das Fortschreiten der Krankheit abbremsen, „nicht eine Heilung ermöglichen“, sagt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Doch schon damit sei ein „Durchbruch in der Alzheimer-Therapie gelungen“.
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Umso mehr bedauert Kleinschnitz, dass die europäische Arzneimittelbehörde EMA zwei der neuen Medikamente nicht zur Zulassung empfohlen hat. „Alle sind überrascht und enttäuscht, das ist ein massiver Rückschlag.“ Zumal Demenz-Erkrankungen bislang nicht heilbar sind. „Erste Medikamente könnten einen Innovationsschub auslösen, auch wenn sie noch verbesserungsfähig sind.“
Trotz Nebenwirkungen: Mediziner wünscht sich Zulassung der neuen Medikamente
Der Neurologe bestreitet die von der EMA angeführten Nebenwirkungen nicht: Die Mittel könnten zu Schwellungen und Einblutungen im Gehirn führen, seltener zu großen und damit gefährlichen Hirnblutungen. Um das Risiko zu minimieren, müsste man die Patienten engmaschig überwachen, sagt Kleinschnitz. Denkbar wäre auch eine vorläufige Zulassung gewesen. „Wissend, dass das keine Wundermedikamente sind, glaube ich doch, dass Patienten hier einer Chance beraubt werden.“
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So empfindet es auch Erika, die nicht möchte, dass ihr Nachname genannt wird, aber offen mit ihrer Demenz umgeht. Auch wenn sie selbst von den Antikörpern nicht profitieren würde, weil die Erkrankung bei ihr zu weit fortgeschritten ist. Diagnostiziert wurde sie Dank der Hartnäckigkeit ihrer Töchter: „Jeder vergisst ja mal etwas, aber das schien uns schon mehr“, erzählt Bettina, die wie die Mutter nur mit Vornamen erscheinen möchte.
„Ich wusste nicht, was mit mir los war, fühlte mich nicht mehr wohl in meiner Haut.“
Auch wesensmäßig habe sich Erika damals verändert: „Sie wirkte depressiv, zog sich zurück – ging dann plötzlich in die Luft.“ Sie sei selbst ratlos gewesen, sagt die heute 76-Jährige: „Ich wusste nicht, was mit mir los war, fühlte mich nicht mehr wohl in meiner Haut.“ Auch das sei typisch, bestätigt Christoph Kleinschnitz, gerade bei zuvor sehr aktiven Menschen: „Da ist der Leidensdruck oft hoch und führt zu einem Rückzug, abwechselnd mit Ausbrüchen.“
Sie war immer aktiv, machte mit dem Enkel Trampolinsprünge
Erika, die bei einer ihrer Töchter in Marl wohnt, erzählt, dass sie früher viel im Garten gearbeitet hat, mit dem Enkel Trampolinsprünge gemacht, mit ihm Fußball gespielt und ihn bekocht hatte. Auch das war nun nicht mehr möglich. „Sie war nicht mehr so belastbar“, erzählt Tochter Bettina, die in Essen lebt. Trotzdem vergingen Monate, bis sich die Mutter im vergangenen Jahr bereit erklärte, den Termin an der Uniklinik wahrzunehmen: „Ich bin nur mitgegangen, um zu beweisen, dass nichts ist.“
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Erika machte den Mini-Mental-Status-Test, der Hinweise auf eine Demenz geben soll. „Ich sollte eine Uhr nachmalen, und dachte noch: Haha, eine Uhr“, erinnert sie sich. „Und dann habe ich die falsche Zeit eingetragen.“ Sie scheitert auch an anderen der Merk- und Rechenaufgaben, die Ahnung der Töchter bestätigt sich. „Es war ein schlimmer Tag“, erzählt Bettina. „Nach dem Termin hat sie geweint, dachte, ihr Leben sei zu Ende.“ Doch heute gehe sie toll mit ihrer Erkrankung um. „Ich bin in ein Loch gefallen, aber dann habe ich es angenommen“, bestätigt Erika.
EU lässt Alzheimer-Medikamente nicht zu
„Lange Zeit liefen die Versuche ins Leere, Alzheimer ursächlich zu bekämpfen, trotz enormen finanziellen Aufwands“, schreibt das Ärzteblatt (16/2024). Doch zuletzt habe sich vorsichtiger Optimismus breit gemacht. So habe die US-Arzneimittelbehörde FDA mehrere Medikamente zugelassen, die kausal gegen Alzheimer wirken: Die Antikörper richten sich gegen Alzheimer-Plaques im Gehirn. Werden sie in einem frühen Stadium eingesetzt, können sie das Fortschreiten der Erkrankung abbremsen.
Im Juli 2024 wurde in den USA Donanemab (Handelsname: Kisunla) zugelassen, zuvor bereits Lecanemab (Leqembi) und Aducanumab (Aduhelm). Die EU-Arzneimittelbehörde EMA hat indes (noch) für keins der Mittel die Zulassung empfohlen. „Die Fachleute begründeten ihre Entscheidung damit, dass das Risiko schwerer Nebenwirkungen angesichts des relativ überschaubaren therapeutischen Effekts zu groß sei“, schreibt das Ärzteblatt im Falle von Leqembi. Es könnten Hirnschwellungen auftreten, in seltenen Fällen Hirnblutungen.
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) bedauert die Entscheidung: Trotz ihrer Grenzen seien die neuen Antikörper „ein Meilenstein“. Da sie in einem Alzheimer-Frühstadium eingesetzt werden sollten, müsste die Frühdiagnostik ausgebaut werden. Damit es nicht zu gefährlichen Komplikationen komme, seien engmaschige Kontrollen der Patienten nötig.
Für die umfassende Diagnostik wurde sie stationär in der Uniklinik aufgenommen, medikamentös eingestellt. „Der Verdacht auf Alzheimer hatte sich erhärtet“, sagt Prof. Kleinschnitz. Mit den zugelassenen Mitteln könne man die Proteinablagerungen im Gehirn nicht bekämpfen. Die Antidementiva verzögern vielmehr den Abbau von Botenstoffen, die Signale zwischen den Nerven übertragen. „Dass Nervenzellen zerstört werden, verhindern sie nicht.“
Wer sich sportlich und intellektuell fordert, beugt vor
Wie schnell die Betroffenen abbauen, hänge auch von ihrem Lebensstil ab. Wer sich intellektuell und sportlich gefordert habe, wer Kontakte pflege, profitiere davon. So wie Erika, die ausgebildete Groß- und Außenhandelskauffrau ist, zeitlebens berufstätig war, sich um Töchter und Enkel gekümmert hat und regelmäßig um den Baldeneysee gelaufen ist. „Die Ablagerungen im Gehirn bilden sich 20, 30 Jahre, bevor man Symptome hat. Wäre sie nicht so aktiv gewesen, wäre sie heute womöglich schon pflegebedürftig.“
Sie laufe immer noch täglich acht bis zehn Kilometer, gehe auch zum Senioren-Turnen, sagt Erika. „Du läufst täglich Deine Runde, aber nicht immer acht Kilometer. Den Turn-Kurs hast Du nicht mehr gebucht“, korrigiert Bettina sanft. Wer den Tagesablauf der Seniorin nicht kennt, würde ihre Schilderung glauben: Die 76-Jährige ist schlank, sportlich und im Gespräch zugewandt und lebhaft. Der Tochter aber fallen Erinnerungslücken und unzutreffende Darstellungen sofort auf. Sie spürt auch, wenn die Stimmung der Mutter schwankt: „Es kommt vor, dass sie weint oder sauer ist, weil sie einen Gegenstand aus ihrem Zimmer holen wollte und mehrmals laufen muss, weil sie vergisst, was sie sucht.“ Es sei hart mitzuerleben, wie man seine Autonomie verliert, sagt Erika.
Täglich läuft ein WhatsApp-Austausch zwischen Essen und Marl, und Erika kommt regelmäßig nach Essen, wo sie so lange gelebt hat. Für Bettina, die selbst Krankenschwester und Pflegeberaterin ist, steht fest, dass es schon sehr hart kommen müsste, bevor die Mutter ins Heim umziehen müsste. Bisher habe sie Pflegegrad 2, einen Notrufknopf der Johanniter und Hilfsmittel wie den Pieper, mit dem sie Handy und Hausschlüssel orten kann.
Seniorin weiß, dass ihre Töchter sich immer um sie kümmern werden
Ihre Töchter wollen nun einen Kurs für Angehörige machen. „Wir sprechen mit der Familie über die Versorgung und Pflege zu Hause in den nächsten fünf bis zehn Jahren“, sagt Prof. Kleinschnitz. Auch werde Erika weiter von der Uniklinik betreut, die Medikation angepasst.
Kleinschnitz hofft, dass man den Patienten bald früher und wirksamere Hilfe anbieten könne: Im nächsten Jahr werde über eine mögliche Zulassung des dritten Alzheimer-Medikaments entschieden. „Viele Patienten nähmen die Risiken in Kauf, um Zeit zu gewinnen, eine Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern.“ Erika weiß, dass die Krankheit bei ihr weiter fortschreiten wird. „Aber mir kann nichts passieren: Meine Töchter sind da, ich bin wie in einem Nest.“
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