Ruhrgebiet. Bochumer Forschern gelang ein gewaltiger Schritt im Kampf gegen die Krankheit. Bald schon, hoffen sie, kann Alzheimer gestoppt werden.
Plötzlich sind da nur noch „Wollknäuel“ im Gehirn. Sie hindern es daran, seine Arbeit zu tun. „Erst merkt es nur der Betroffene. Dann auch seine Familie. Und schließlich: nur noch die.“ So skizziert Prof. Klaus Gerwert die drei klassischen Phasen einer Alzheimer-Erkrankung, der häufigsten Form von Demenz. Der Bochumer Biophysiker hat im Kampf gegen die Erkrankung eine womöglich bahnbrechende Entdeckung gemacht: Ein von ihm und seinem Team am Zentrum für Proteindiagnostik (ProDi) entwickelter Bluttest erkennt Alzheimer – 17 Jahre, bevor die Krankheit ausbricht.
Lesen Sie hier mehr zum Thema Demenz
- Die Demenzzahlen explodieren - Wer soll all diese Menschen versorgen?
- Manchmal werde ich laut. Und dann schäme ich mich. Leser erzählen
- Gammeln als Therapie: Altenheim staunt über Demenz-Konzept
Es beginnt mit vermeintlich harmloser Vergesslichkeit, Orientierungs- oder Wortfindungsproblemen, die die Betroffenen meist noch gut verstecken können. Irgendwann lassen sich die Symptome nicht mehr ignorieren; die Erkrankten verändern sich, haben zunehmend größere Mühe, sich im Alltag zurechtzufinden. Es endet – als Pflegefall: Im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz sind Erkrankte vollständig auf fremde Hilfe angewiesen. Die Erkrankung zerstört die Nervenzellen im Gehirn; sie ist so gemein wie unerbittlich. Und sie ist unheilbar.
„Ab 60 verdoppelt sich das Risiko alle fünf Jahre“
Wer jünger als 60 sei, müsse sich in der Regel keine Sorgen machen, erklärt Gerwert, Geschäftsführer und Gründungsdirektor des ProDi, das im Juli seinen 5. Geburtstag feierte. Genetisch bedingte Demenzerkrankungen, die sich deutlich früher zeigten, machten gerade zwei Prozent aller Fälle aus. „Aber ab 60 verdoppelt sich das Risiko alle fünf Jahre. Für 95-jährige Frauen liegt die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken, bei 50 Prozent.“
Prävention ist darum wichtig. Sport, gesunde Ernährung, geistige Aktivität und soziale Kontakte können vorbeugen, das haben Studien nachgewiesen. Die Ursachen der Erkrankung sind indes noch nicht endgültig geklärt. Bekannt ist nur, dass sich im Gehirn der Betroffenen sogenannte Amyloid-Plaques bilden, verursacht durch Fehlfaltungen eines Proteins: Amyloid-Beta. „Das Protein wird durch die Fehlfaltung klebrig und verklumpt zu einer Art Wollknäuel“, erklärt Gerwert. Warum sich das Protein umfaltet? „Weiß man noch nicht.“ Die sichere Diagnose der Plaques erfolgt bislang meist über zwei Methoden: PET-Scan oder Lumbalpunktion, „die eine Methode teuer, die andere invasiv“, so Gerwert, „und beide greifen zu spät für eine erfolgreiche Therapie.“
Auf der Suche nach Biomarkern
Ein 150 Kopf starkes, interdisziplinäres Team aus Wissenschaftlern und Klinikern, aufgeteilt in sechs Abteilungen, sucht im ProDi – 2019 als Forschungsbau der Ruhr-Uni auf dem Bochumer Gesundheitscampus gegründet – nach einfacheren Methoden zur Diagnostik: sogenannten „Biomarkern“ etwa, die schon in einem frühen Stadium Hinweise auf die Erkrankung und ein mögliches Therapieansprechen liefern. Der Fokus liegt dabei auf neurodegenerativen und onkologischen Erkrankungen. Fehlgefaltete Amyloid-Beta-Proteine sind so ein Biomarker. Gerwert und sein Team entwickelten einen „Immuno-Infrarot-Sensor“ der sie mittels Infrarot-Spektroskopie sichtbar macht. In verschiedenen Studien bewiesen sie inzwischen, dass das mit großer Genauigkeit möglich ist – und schon 17 Jahre, bevor der Betroffene erste klinische Symptome zeigt.
2023 erhielt Gerwert den renommierten Innovationspreis des Landes NRW für seine Forschung. Als er sieben Jahre zuvor erste Ergebnisse vorstellte, belächelte man ihn, bestenfalls, milde. Ein Bluttest für Morbus Alzheimer? Was sollte das bringen? Es gab ja kein Medikament, das die Krankheit wirklich kurieren könnte. Tatsächlich sind Antidementiva, Antipsychotika, Antidepressiva, kognitives Training und andere nicht-medikamentöse Therapien, die deutsche Ärzte ihren Demenz-Patienten bislang verordnen, durchaus wirksam. Sie verzögern den Krankheitsverlauf aber nur, mildern Symptome. Auf die grundlegenden Mechanismen der Erkrankung zielen sie nicht.
„Donanemab“ im Juni in den USA zugelassen
Doch in den USA sind inzwischen drei eben solcher Medikamente zugelassen. Das jüngste, Donanemab (Handelsname: Kisunla), erst seit 2. Juli. Wie bei seinen Vorgängern Lecanemab (Leqembi, zugelassen 2023) und Aducanumab (Aduhelm, 2021) handelt es sich bei diesem Medikament um einen sogenannten Antikörper, der per Infusion alle vier Wochen verabreicht wird. Er ist in der Lage, Amyloid-Plaques im Gehirn aufzulösen; will so den Abbau der geistigen und kognitiven Fähigkeiten Erkrankter aufhalten. In Europa ist (noch) keines der drei Medikamente zugelassen, die EU-Arzneimittelbehörde EMA lehnte erst Ende Juli eine Empfehlung für Lecanemab ab; für Donanemab ist die Zulassung noch nicht einmal beantragt. Die möglichen Nebenwirkungen der neuen Therapien sind ernst, Hirnblutungen etwa zählen dazu.
Der Bochumer Forscher ist dennoch zuversichtlich, dass bald ein geeignetes, sicheres Medikament in Deutschland zur Verfügung stehen wird. Viele Medikamente seien in Studien gescheitert, glaubt er, weil sie den Probanden zu spät verabreicht wurden – als ihre Krankheit schon zu weit fortgeschritten war, die Plaques ihr Hirn schon zu stark irreversibel geschädigt hatten. „Nervenzellen, die schon zerstört sind, können nicht mehr gerettet werden. Aber die weitere Zerstörung von Nervenzellen können diese Medikamente aufhalten“, sagt Gerwert. Und wenn die Therapie einsetze, bevor die Krankheit ausbricht, könne sie hoffentlich gestoppt werden. „Darum ist es so wichtig, Alzheimer so früh wie möglich zu erkennen.“
Um die 200 Euro wird der Test kosten
In spätestens drei Jahren soll Gerwerts Test „Marktreife“ haben. Der Biophysiker gründete dafür die Firma „betaSENSE“, die erste offizielle Ausgründung des ProDi. Die gewonnenen Erkenntnisse der Allgemeinbevölkerung zur Verfügung zu stellen, die „Translation“ der Forschung, sähe man als „gesellschaftliche Aufgabe“. „Der Immuno-Infrarot-Sensor soll in klinischen Laboren stehen, denen Neurologen und Hausärzte die Blutproben ihrer Patienten zur Untersuchung schicken können“, erklärt Gerwert. „Das Ergebnis soll dann der Arzt mit den Patienten in Ruhe besprechen.“ Die ersten zehn Geräte für klinische Studien werden in den betaSENSE-Laboren noch in diesem Jahr zum Einsatz kommen; die größten Hürden seien genommen. Schon jetzt können sich Interessierte auf einer Warteliste für den Test eintragen. Um die 200 Euro soll er kosten – und künftig zur Standard-Vorsorge für alle Versicherten über 60 gehören. „In einigen Jahren“, hofft Klaus Gerwert, „kann Alzheimer gestoppt werden.“