Essen. Patienten mit bösartigem Hirntumor haben eine schlechte Prognose. Mit elektrischen Wechselfeldern hilft die Uniklinik Essen, Leben zu verlängern.
Die erste Diagnose stellte sein Chef: „Du siehst sch… aus, geh’ lieber zum Arzt. Deine zweite Tour fährt ein Kollege.“ So erinnert sich Jörg Aus der Wiesche an den November 2017. Doch er musste erst kollabieren, bevor der bösartige Gehirntumor festgestellt wurde, den er bis heute überlebt. Auch dank einer noch jungen Therapieform, auf die die Uniklinik Essen bei Patienten wie ihm setzt.
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Statt sich ans Steuer des Lastwagens zu setzen, ging er damals tatsächlich zum Arzt, erzählte von seinen Kopfschmerzen und der Antriebslosigkeit, die ihn schon etwas länger plagten: „Vorher war ich immer der Schnellste beim Be- und Entladen des Lkws, jetzt wurde ich immer langsamer. Ich hatte auf nichts Lust, legte mich oft hin… Meine Frau dachte schon, ich würde dement.“ Der Hausarzt dagegen ging von einer Stirnhöhlenentzündung aus, zu der die unspezifischen Symptome auch gepasst hätten.
Patient brach in der Mülheimer Innenstadt zusammen
Nach einer Woche wollte Aus der Wiesche wieder arbeiten gehen, doch nach einem Friseurtermin am Samstag davor, kippte er in der Mülheimer Innenstadt um. Jemand wählte die 112, der Rettungswagen brachte ihn ins Krankenhaus. Dort fragte man ihn nach Namen und Geburtsdatum, hielt ihm einen weiß-blauen Kugelschreiber hin, welche Farben er sehe? „Schalke“, antworte der Fußballfan.
Man wollte ihn schon nach Hause schicken, doch seine Frau erklärte resolut: „Das ist nicht mein Jörg.“ Aus der Wiesche wurde gründlicher untersucht, eine Computertomographie gemacht: „Da sah man dann den Tumor“, erinnert sich der Mülheimer. Ein Glioblastom, hieß es damals, der bösartigste Hirntumor. Schnellstmöglich sollte er an der Uniklinik in Essen operiert werden.
Chirurgen konnten den Hirntumor radikal operieren
Bei der OP wird versucht, den Tumor so umfassend wie möglich zu entfernen – ohne gleichzeitig wichtige Hirnareale wie das Sprachzentrum zu beschädigen. So erklärt es Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, der die Klinik für Neurologie an der Uniklinik Essen leitet und Jörg Aus der Wiesche heute behandelt. „In seinem Fall konnten die Chirurgen radikal operieren.“ Bilder vom Gehirn des Patienten zeigen eine enorme schwarze Leerstelle, doch Einschränkungen hat Aus der Wiesche praktisch nicht.
„Es ist für diesen Tumor sensationell, dass er lebt und dass er so gut lebt“, sagt Kleinschnitz. Inzwischen wisse man, dass der heute 56-Jährige kein Glioblastom habe, sondern ein damit eng verwandtes Astrozytom Grad 4. Für beide Krebsformen gilt, dass man mit verbliebenen Tumorzellen rechnen muss: „Der Tumor lässt sich operativ nie vollständig entfernen“, erklärt Prof. Dr. Martin Glas, Leiter der Abteilung für Neuroonkologie an der Uniklinik. Darum schließen an die OP stets Strahlen- und Chemotherapie an.
Trotzdem überleben die meisten Patienten nur knapp anderthalb bis zweieinhalb Jahre, denn nahezu immer tritt ein Rezidiv, ein Rückfall, auf. Auch bei Jörg Aus der Wiesche mussten ein Jahr nach der ersten OP zwei weitere kleine Tumoren entfernt werden. Das war 2018. Seither ist der Krebs nicht mehr zurückgekehrt.
Zum einen läuft – engmaschig kontrolliert – die Chemotherapie weiter. Zum anderen bekommt Aus der Wiesche eine Therapie, die mit elektrischen Wechselfeldern arbeitet: Er trägt vier Pflaster mit Elektroden, die auf die rasierte Kopfhaut geklebt sind. Sie sind über ein Kabel mit einem Steuergerät verbunden, das ein elektrisches Wechselfeld erzeugt. Hierbei wechseln bis zu 200.000-mal pro Sekunde Plus- und Minuspol. Die Felder sollen die Teilung der Tumorzellen hemmen und so das Krebswachstum stoppen oder zumindest verlangsamen.
Langzeitüberlebensrate kann durch die Therapie gesteigert werden
„Heilbar ist der Tumor nicht, und es bleibt eine aggressive Erkrankung“, betont Prof. Glas. „Aber die Lebenszeit der Patienten kann durch die Therapie signifikant verlängert werden, hier insbesondere die mögliche Steigerung der sogenannten Langzeitüberlebensrate.“ So wurde die 4-Jahres-Überlebensrate in einer Studie von 8 auf 20 Prozent gesteigert. Mit diesem Zeitgewinn verbinde sich für viele Patienten die Hoffnung auf weitere medizinische Fortschritte.
Bösartige Hirntumore
Das Glioblastom stellt die bösartigste Form der hirneigenen Tumore dar. Es gehört zur Gruppe der Gliome (Hirntumore), die möglicherweise vom Stützgewebe des Gehirns (Gliazellen) abstammen. Dieser Tumor wächst schnell und macht sich zunächst meist durch Kopfschmerzen, einen epileptischen Anfall oder neurologische Ausfälle bemerkbar. Jährlich erkranken in Deutschland etwa 4000 Menschen an einem Glioblastom. Es ist also im Vergleich mit anderen Krebserkrankungen selten, aber zugleich bei Erwachsenen die häufigste Form eines bösartigen primären Hirntumors. Die Erkrankung ist nicht heilbar, die Lebenserwartung hat sich zuletzt jedoch deutlich verbessert.
Ein Astrozytom WHO-Grad 4 ist ebenfalls ein bösartiger Hirntumor. WHO steht für die Weltgesundheitsorganisation, die die Klassifizierung vornimmt. Beim Astrozytom WHO-Grad 4 ist ein Gen mutiert, das für die Produktion des Enzyms Isocitrat-Dehydrogenase (IDH) verantwortlich ist. Die Prognose von Patienten mit IDH-Mutation ist besser als ohne, sodass die WHO seit 2021 ein Astrozytom Grad 4 vom Glioblastom unterscheidet, das die Mutation nicht aufweist. Jährlich werden hierzulande etwa 400 Astrozytome Grad 4 neu diagnostiziert. Glioblastome treten meist im Alter von 55 bis 80 Jahren auf, Patienten mit Astrozytomen Grad 4 sind jünger.
Andere scheuten die Behandlung: Sie müssen ihre Haare opfern, fallen durch die Klebepflaster auf und müssen das 1,5 kg schwere Steuergerät mindestens 18 Stunden am Tag mit sich tragen. Auch können die Pflaster Juckreiz am Kopf verursachen. Das alles schränke ihre Lebensqualität zu sehr ein, zumal sie womöglich nur wenige Monate Lebenszeit gewinnen. Auch unter Medizinern ist der Nutzen der Therapie umstritten, wiewohl Studien belegen, dass sie Leben verlängert.
Hirntumor-Patient kann wieder in Urlaub fliegen
„Wir bieten den Patienten an, die Therapie einen Monat lang auszuprobieren“, sagt Glas. Jörg Aus der Wiesche konnte das zunächst als Studienteilnehmer, heute läuft seine Behandlung als „individueller Heilversuch“ mit Okay der Krankenkasse. Wenn Freunde ihn fragen, wie lange er die Elekrtroden noch tragen müsse, antwortet er: „Die Frage ist, wie lange ich sie noch tragen darf.“ Er trägt sie quasi 24 Stunden, auch wenn seine Kopfhaut immer sehr warm ist und gelegentlich juckt.
Aus der Wiesche ist heute Rentner. Als Berufskraftfahrer wird er nie mehr arbeiten, doch er darf wieder Autofahren. Zweimal die Woche macht er Physiotherapie, einmal Ergotherapie. Auch jetzt habe er manchmal Probleme, sich zu motivieren, und wenn er einen Kilometer laufe, „gehört die Bank mir“. Was auch an seiner Arthrose und einem Bandscheibenvorfall liege. Doch er konnte das Steuergerät mit an Bord eines Flugzeugs nehmen und zum Urlaub nach Teneriffa fliegen.
Leben kann nach der Diagnose schnell zu Ende gehen
Nicht jeder Patient profitiere so gut von den elektrischen Wechselfeldern, räumen Kleinschnitz und Glas ein. Doch sie sehen das Potenzial der Behandlung und glauben, dass sie auch Immuneffekte anregt. Jörg Aus der Wiesche ist überzeugt von der Wirkung und erklärt anderen Betroffenen als Mentor per Videoschalte, was sie für seinen Alltag bedeutet. Er weiß, wie schnell sein Leben nach der Diagnose im Jahr 2017 hätte zu Ende gehen können: „Ich bin froh, dass ich immer noch lebe!“
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