Duisburg. Immer mehr Schüler in NRW haben einen Migrationshintergrund. Darauf sind die Schulen „noch viel zu wenig“ vorbereitet, kritisiert ein Lehrer.

Immer mehr Schülerinnen und Schüler in NRW haben eine Migrationsgeschichte. Vor knapp zehn Jahren waren es knapp 33 Prozent, im Schuljahr 2023/24 bereits 43 Prozent. Das zeigen neue Zahlen des Landesstatistikamts IT.NRW. Wie gut sind die Schulen darauf eingestellt? Und wie kann Unterricht trotz Sprachbarriere gelingen? Darüber hat Sophie Sommer mit Moritz Janßen gesprochen. Er arbeitet als Lehrer für Englisch und Politik am Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium in Duisburg-Marxloh. Dort unterrichtet der 30-Jährige in internationalen Vorbereitungsklassen Schülerinnen und Schüler, die kein Deutsch sprechen.

In NRW haben immer mehr Kinder und Jugendliche einen Migrationshintergrund. Was bedeutet das für den Schulalltag?

Moritz Janßen: In Marxloh merken wir da keine Veränderung. Bei uns kommen schon lange fast alle Schülerinnen und Schüler aus Familien mit Migrationshintergrund. Was sich verändert hat: Wir unterrichten jetzt viele Kinder aus der Ukraine.

Etwa 100.000 Schüler aus allen Teilen der Welt wurden seit dem russischen Angriffskrieg an den Schulen in NRW aufgenommen, deutlich mehr als in den Vorjahren. Sind sie gut angekommen?

Am Anfang waren sie oft verunsichert und nicht wirklich motiviert. Sie haben nicht verstanden, warum sie in Deutschland zur Schule gehen sollen, wenn sie doch am liebsten zurück in ihre Heimat wollen. Mittlerweile haben die meisten von ihnen aber Anschluss gefunden und sprechen gut Deutsch. Wie alle neu zugewanderten Kinder unterrichten wir sie in den sogenannten internationalen Vorbereitungsklassen, damit sie in Ruhe Deutsch lernen können. Ziel ist es, dass sie dann irgendwann in reguläre Klassen wechseln.

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Wie oft gelingt das?

Selten, also noch lange nicht so oft, wie wir es uns wünschen. In diesem Jahr hat aber zum ersten Mal ein Schüler aus einer Vorbereitungsklasse sein Abi gemacht. Wer es nicht in eine reguläre Klasse schafft, kann nach der neunten Klasse seinen Hauptschulabschluss machen und zum Beispiel auf ein Berufskolleg wechseln.

Wie unterrichten Sie, wenn alle Kinder unterschiedliche Sprachen sprechen?

Sehr langsam und sehr anwendungsbezogen. Wenn die Schülerinnen und Schüler vorher nicht zur Schule gegangen sind und als Jugendliche zum ersten Mal ein Klassenzimmer betreten, muss man bei den Basics anfangen: Wie funktioniert Unterricht? Was muss ich dabei haben? Wie beteilige ich mich? Im Englischunterricht arbeite ich viel mit Beispielen aus dem Alltag, damit die Schüler verstehen, welchen Nutzen die Schule für sie hat. Also zum Beispiel: Wie komme ich von A nach B?

Wird im Englischunterricht nur Englisch gesprochen?

Ich spreche meistens Englisch, manchmal Deutsch. Wenn ich merke, dass die Klasse gar nicht mitkommt, benutze ich den Google-Übersetzer. Wir haben auch keine klassischen Vokabelhefte mit zwei Spalten für Englisch und Deutsch. Ich erstelle immer Wörterlisten mit einer dritten für die Muttersprache. In einer Klasse mit 16 Schülerinnen und Schülern haben wir schon mal neun verschiedene Sprachen. Das Gute ist, dass meistens zwei Kinder dieselbe Sprache sprechen. Sie können sich dann gegenseitig helfen.

43 Prozent der Schüler in NRW mit Migrationsgeschichte

Der Anteil der Schüler mit Zuwanderungsgeschichte ist in den vergangenen fünf Jahren in Nordrhein-Westfalen kontinuierlich gestiegen: von knapp 37 Prozent im Schuljahr 2018/19 auf 43 Prozent im vergangenen Schuljahr. Mehr als eine Million der insgesamt rund 2,5 Millionen Schülerinnen und Schüler, die eine allgemeinbildende oder berufliche Schule in NRW besuchten, hat ausländischen Wurzeln. Das teilt das Statistische Landesamt IT.NRW mit.

Wuppertal (58,6 Prozent), Duisburg (58,3 Prozent) und Gelsenkirchen (57,7 Prozent) hatten im Schuljahr 2023/24 die höchsten Anteile an Schülern mit Zuwanderungsgeschichte. Am niedrigsten lag die Quote in den Kreisen Coesfeld (22,8 Prozent), Borken (26,8 Prozent) und Euskirchen (26,8 Prozent).

Als Personen mit Zuwanderungsgeschichte gelten in der Statistik Schülerinnen und Schüler, die im Ausland geboren und nach Deutschland zugewandert sind, sowie diejenigen, von denen mindestens ein Elternteil im Ausland geboren und nach Deutschland zugewandert ist und/oder deren Verkehrssprache in der Familie nicht Deutsch ist. Die Staatsangehörigkeit der Schüler ist dabei ohne Bedeutung.

Klingt so, als wäre viel Kreativität und Improvisation gefragt. Wie gut ist das Schulsystem auf Integration eingestellt?

Noch viel zu wenig. Obwohl die Gesellschaft heute viel diverser ist, hat sich eigentlich kaum etwas verändert, seit ich zur Schule gegangen bin. Für die Vorbereitungsklassen gibt es zwar sprachsensible Schulmaterialien, aber auch in den regulären Klassen haben viele unserer Schülerinnen und Schüler große Sprachprobleme. Wenn wir im Politikunterricht eine Aufgabe aus dem Buch lösen wollen, muss ich pro Seite manchmal 15 Begriffe erklären. Das sollte angepasst werden.

Moritz Janßen ist Lehrer am Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium in Duisburg-Marxloh.

„In einer Klasse mit 16 Schülerinnen und Schülern haben wir schon mal neun verschiedene Sprachen.“

Moritz Janßen

Würden darunter nicht die starken Kinder leiden?

„Mein Kind lernt nichts mehr, die schlechten Schüler ziehen es runter“: Das hört man oft von Eltern. Das ist aber völliger Blödsinn. Wenn ein Kind schneller mit den Aufgaben ist als die anderen, fordere ich es meist auf, seinen Mitschülern zu helfen. Das macht ihnen nicht nur sehr viel Spaß, sondern bringt sie auch weiter, was die sozialen Fähigkeiten angeht.

Was müsste sich noch ändern, damit Integration gelingen kann?

Wo fange ich da an? Wir brauchen vor allem mehr Personal. Als einzige Lehrkraft im Klassenraum kann man gar nicht auf die Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler eingehen. Und wir haben nur eine Sozialarbeiterin, die für alle 800 Kinder und ihre Eltern zuständig ist. Da wäre es sinnvoll, wenn wir eine Stelle mehr speziell für die Vorbereitungsklassen hätten.

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Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Eltern?

Die findet in den Vorbereitungsklassen eigentlich gar nicht statt, weil es diese extreme Sprachbarriere gibt. Man kann für Elternsprechtage Hilfe beantragen. Aber ich kann nicht für jedes kurze Telefonat einen Übersetzer bestellen. Dabei spielen die Eltern eine große Rolle, weil unser Schulsystem sehr auf ihre Mithilfe angewiesen ist.

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Inwiefern?

Wenn ich dem Schüler Hausaufgaben gebe, aber es zu Hause niemand interessiert, ob er sie macht oder ob er überhaupt zur Schule geht, woher soll er dann seine Motivation nehmen? Wir sind als Ganztagsschule zwar bemüht, viel aufzufangen, sind aber trotzdem auf die Eltern angewiesen. Sie müssen verstehen, dass Schule wichtig ist. Um ihnen das klarzumachen, besuchen wir sie manchmal auch zuhause. Aber da geraten wir schon an unsere Grenzen. Der Spruch „Bildung ist der Schlüssel zu allem“ stimmt eben nicht.

Wie meinen Sie das?

Man braucht ganzheitliche Ansätze, die die Familien mit einbeziehen. Man müsste hier im Stadtteil auch erstmal eine Menge Entwicklungsarbeit leisten. Viele Ecken sind vermüllt und heruntergekommen. Aber das wird so hingenommen, ist halt Marxloh. Das macht etwas mit unseren Schülerinnen und Schülern und ihrer Motivation. Sie haben das Gefühl, dass sie den meisten Menschen egal sind. Wir wollen sie vom Gegenteil überzeugen und tun viel dafür, dass sie sich an der Schule wohlfühlen. Das Schöne ist: Viele von ihnen gehen gern zur Schule, weil sie merken, dass sie uns wichtig sind.

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