Oberhausen. Auf Peter Kovacs Grundschule in Oberhausen gehen über 30 Ukrainer. Wie Integration gelingen kann – und wie Schulen sich verändern müssen.
Sascha legt den Kopf auf den Tisch. Seine Mitschülerin guckt ihn an. „Wieso machst du nicht weiter?“, fragt sie auf Ukrainisch. Ohne eine Antwort abzuwarten, dreht sie sich wieder um. Sie blättert in ihrem Buch eine Seite weiter, hält sich den Stift an die Stirn und überlegt dann, ob das Wort „Wimp-“ auf „er“ oder „en“ endet.
Mehr als 30 Kinder aus der Ukraine besuchen derzeit die Astrid-Lindgren-Grundschule in Oberhausen. In jeder Klasse sitzt mindestens ein Kind, das in der Regel kein Wort Deutsch spricht und die Flucht aus seiner Heimat noch lange nicht verarbeitet hat, wenn es zum ersten Mal den Schulhof betritt. „Sie alle haben ein großes Paket zu tragen. Sie waren vorgestern noch in ihrem Kinderzimmer in der Ukraine und plötzlich stehen sie in Oberhausen vor mir, weil sie jetzt hier zur Schule gehen sollen“, sagt Schulleiter Peter Kovac.
Oberhausener Grundschulleiter: „Wir erziehen und unterrichten“
Keine leichte Aufgabe, weder für die Kinder noch für die Lehrkräfte. Einige Schulen in NRW sind mit der Integration neu zugewanderter Kinder zunehmend überfordert. Zu viele neue Aufgaben treffen auf ein Schulsystem, in dem es schon lange zu wenig Lehrkräfte, zu wenig Platz und zu wenig Bildungsgerechtigkeit gibt. So sehen es die einen. Peter Kovac sieht es anders. „Wir hätten kein Problem damit, noch mehr Kinder aufzunehmen“, sagt er.
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Kovac ist ein pragmatischer Mann. Er sitzt in seinem Büro im ersten Stock, hinter ihm hängt ein Foto von Astrid Lindgren. Seit fast 20 Jahren leitet der heute 60-Jährige die nach der schwedischen Kinderbuchautorin benannte Grundschule. Die Schülerinnen und Schüler lernen hier nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch, wie sie einen Reißverschluss zu machen, richtig frühstücken oder auf die Toilette gehen. „Wir erziehen und unterrichten. Das gehört an einer Grundschule mit dazu.“
Das Schulministerium NRW stuft seine Schule im Sozialindex sechs ein.Um diesen zu bestimmen, wird zum Beispiel der Schüleranteil mit nicht-deutscher Familiensprache, Migrationshintergrund und diagnostizierten Förderbedarf bewertet. Stufe neun bedeutet die höchste Belastung, Stufe eins die niedrigste.
„Unsere Schule war schon immer bunt“, sagt Kovac und geht zur Fensterfront seines Büros. Von hier aus hat er den gesamten Schulhof im Blick. Am Eingang begrüßt ein bunt bemalter Adler alle Schülerinnen und Schüler jeden Morgen mit dem Schriftzug „Vielfalt ist meine Heimat.“ „Hier ist jeder willkommen“ oder „Hier kommen Schüler an, keine Flüchtlinge“: Das sind Sätze, die man von Peter Kovac häufig hört. Nicht erst, seit Russland die Ukraine überfallen hat.
Syrische Kinder wurden in Oberhausen getrennt unterrichtet
2011, als der Bürgerkrieg in Syrien etliche Menschen zur Flucht zwang, nahm seine Schule ebenfalls viele neu zugewanderte Kinder auf. Damals, erinnert sich Kovac, wurden diese nicht direkt in den regulären Klassen unterrichtet. Getrennt von den anderen sollten sie die Möglichkeit haben, in Ruhe Deutsch zu lernen. „Sprachlich konnte man auf diese Weise gut mit ihnen arbeiten, keine Frage. Aber es hatte einen großen Nachteil: Sie blieben auch später, wenn sie zu den anderen Schülerinnen und Schülern in die Klassen kamen, meist unter sich.“
Kovac und sein Team änderten deshalb die Strategie. Die syrischen Kinder sollten von Anfang an gemeinsam mit den anderen unterrichtet werden. Nur bei manchen Unterrichtsstunden fehlten sie, um Deutsch zu lernen. „Sie waren immer zu zweit in einer Klasse, damit sie sich gegenseitig unterstützen konnten. Deshalb habe ich ihnen auch nie verboten, Arabisch untereinander zu sprechen. Aber diese Kinder haben im Sprachbad der Klasse so unglaublich schnell Deutsch gelernt“, sagt Kovac. Genauso handhabe er es deshalb noch heute mit den ukrainischen Schülerinnen und Schülern.
Der Schulleiter schnappt sich seinen Schlüsselbund und läuft durch die leeren Flure des Schulgebäudes. „Die räumliche Struktur ist eine große Herausforderung“, sagt er. Sie hätten schon Zimmer mit Unterrichtsmaterialien frei geräumt, um mehr Platz für Schülerinnen und Schüler zu schaffen. „Im Sommer findet viel Unterricht auch draußen statt“, sagt Kovac und zeigt auf den Innenhof.
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Dann öffnet er die Tür zu einem Klassenzimmer. Die Stille weicht lautem Gemurmel und Kinderlachen. 28 Schülerinnen und Schüler lernen hier zusammen. „Die Klassen müssten kleiner werden. Das wäre gut“, sagt Kovac. An diesem Mittwochvormittag kümmern sich eine Lehrerin, eine FSJlerin und eine OGS-Mitarbeiterin gemeinsam um die Kinder. „Eine Luxussituation“, sagt Kovac.
Ein Luxus, den er selbst möglich gemacht hat. „Wir haben Hausaufgaben abgeschafft und dafür am Vormittag sogenannte Lernzeiten eingeführt. Das hat auch den Vorteil, dass die OGS-Kräfte schon am Vormittag mitarbeiten können“, erzählt Kovac, als er durch den Klassenraum geht.
Eine Schülerin löst gerade ihre Matheaufgaben, eine andere übt das Alphabet. Ein Schüler sitzt vor dem Tablet, ein anderer schreibt auf Papier. Dass jedes Kind für sich lernt, ist ein wichtiger Teil des Konzepts, erklärt Kovac: „Wenn die Kinder in die Schule kommen, sind sie so unterschiedlich, was ihre Leistungen angeht. Deshalb lernt jedes Kind von Anfang an auf seinem Niveau. Eltern müssen sich also auch keine Sorgen um die Leistung ihrer Kinder machen. Wer schneller als andere ist, kann jetzt schon Stoff aus einer höheren Klasse machen.“
Kovac ist der Meinung, dass Schulleiterinnen und Schulleiter mittlerweile die Chance hätten, ihre Schule an den individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler auszurichten. Und die seien von Stadt zu Stadt, von Stadtteil zu Stadtteil und von Kind zu Kind nun mal sehr unterschiedlich.
Er habe zum Beispiel gemerkt, dass ein Großteil seiner Schülerschaft Probleme im Mathe-Unterricht hat. Also hat er die Inhalte gekürzt. Aktuell diskutiere er mit seinen Lehrkräften darüber, wie sinnvoll es ist, dass jedes Kind Schreibschrift lernen muss. All das erleichtere auch den neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern den Start. „Schule ist im Wandel, im positiven Sinne. Wir Schulleiter und Schulleiterinnen haben viele Freiheiten bekommen. Wir trauen uns nur viel zu häufig nicht, sie mit guten Gewissen auszuschöpfen. Wir dürfen so vieles, wo wir noch ängstlich sind“, sagt er.
Migration und Schule in NRW: „Eine Frage der Einstellung“
Dann geht er geht an den Tisch, an dem Sascha übt. Während seine Mitschülerin weiter Endungen auf „-er“ übt, widmet sich auch Sascha wieder seinen Matheaufgaben. Brauchst du Hilfe?“, fragt Kovac Sascha. „Nein, danke“, antwortet dieser.
„Die beiden sprechen so gut Deutsch und haben sich so schnell in die Gemeinschaft eingefunden. Das ist beeindruckend“, sagt Kovac. „Sie sind keine Belastung. Im Gegenteil.“ Für Peter Kovac ist die Frage, wie gut neu zugewanderte Kinder aufgenommen werden können, wie so vieles, eben einfach „eine Frage der Einstellung“.
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