Bochum. Nach dem russischen Überfall kamen viele gut ausgebildete Ukrainer nach NRW. Ein Beispiel zeigt, wieso viele noch nicht in Arbeit sind.

  • Nach aktuellsten Schätzungen der Bundesagentur für Arbeit waren im Juli 2024 rund 49.700 Menschen aus der Ukraine in NRW erwerbstätig. Davon waren sogar 38.400 Menschen in sozialversicherungspflichtigen Jobs.
  • Zum Vergleich: Im Dezember 2023 waren 30.158 Menschen erwerbstätig, Ende 2022 waren 21.950 Menschen.
  • Dennoch geht vielen die Integration in den Arbeitsmarkt nicht schnell genug. Eine Spurensuche

Der Bescheid der Bezirksregierung Münster liegt vor Lidiia Dudukalova auf dem Tisch. Fast ein Jahr hat die Ukrainerin darauf gewartet, dass die Behörde ihren Beruf anerkennt. Jetzt weiß sie mit dem Brief nicht allzu viel anzufangen: 920 Stunden praktische und 388 Stunden theoretische Erfahrung soll die 33-jährige Frau noch einmal sammeln - mehr als 1200 Unterrichtsstunden also, bevor sie in Deutschland den Beruf ausüben darf, mit dem sie in der Ukraine ihren Lebensunterhalt bestritten hat.

Lidiia Dudukalova hat als Physiotherapeutin gearbeitet. Die gelernte OP-Pflegekraft hatte sich dazu 2016 an einer Hochschule ausbilden lassen und machte einen Masterabschluss. Problemlos anerkannt wird das in Deutschland nicht. Sie wisse noch nicht, was sie jetzt tun solle, sagt sie und lehnt ihren Körper ein bisschen weiter über die Tischplatte, so als wolle sie ihr Gewicht darauf ablegen.

Hoffnung für den Arbeitsmarkt: Viele Ukrainerinnen und Ukrainer kamen mit Uniabschluss

Es war die große Hoffnung: Als nach dem russischen Angriffskrieg 2022 immer mehr Frauen mit ihren Kindern aus der Ukraine nach Deutschland flüchteten, waren Arbeitsmarktbeobachter zunächst zuversichtlich. Die große Mehrheit verfügte über einen Hochschulabschluss und war schon in der Ukraine berufstätig. Allgemein wurde erwartet, dass sie zügig eine Arbeit aufnehmen können.

>>> Lesen Sie hier: Wieso eine promovierte Juristin aus der Ukraine als Jobcoach arbeitet

Nach aktuellsten Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren im Juli schätzungsweise 49.700 Menschen aus der Ukraine in NRW erwerbstätig. Davon waren 38.400 Menschen in sozialversicherungspflichtigen Jobs. Zugleich waren den Jobcentern in NRW im Juli 2024 rund 116.500 Menschen aus der Ukraine zur Arbeitsvermittlung gemeldet (Stand Juli). Tatsächlich arbeitslos waren davon aber nur 40 Prozent - 23 Prozent waren in Ausbildung, an einer Schule oder in Arbeit und weitere 24 Prozent in einem Integrations- oder Sprachkurs. Geht da mehr?

Wenn man sich umhört, bekommt man viele Antworten darauf zu hören. Oft ist von langen Wartezeiten die Rede. Unternehmen berichten aber auch von Erfahrungen, dass angebotene Beschäftigungen nicht angenommen würden. Und Behörden betonen: Zwei Jahre seien schnell rum, bevor Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden können.

Ukrainerin wartet rund ein Jahr auf eine Berufsanerkennung

Lidiia Dudukalova floh kurz nach dem russischen Überfall im Februar 2022 mit ihrem Sohn aus Charkiw ins Ruhrgebiet. „In der Ukraine hieß es immer, mit unseren Abschlüssen könne man überall arbeiten“, sagt sie und muss selbst schmunzeln. So einfach ging das dann nicht: Der Arbeitsmarktzugang zu Gesundheitsberufen ist reglementiert, Qualifikationen müssen anerkannt und Sprachkenntnisse vorgelegt werden. Dudukalova kam in den Bürgergeldbezug.

Lidiia Dudukalova lebte bis zum russischen Überfall 2022 in Charkiw.

„Dass das alles so lange dauert, hätte ich nicht gedacht.“

Lidiia Dudukalova
Physiotherapeutin aus der Ukraine

Im April 2022 fand sie einen Integrationskurs, der in der Regel neun Monate dauert. Nebenbei richtete sie eine Wohnung ein, kümmerte sich um ihren heute zehn Jahre alten Sohn, der vom Krieg viel zu viel gesehen hatte. Sie musste einen weiteren Sprachkurs für ihren Beruf machen, reichte zudem im Oktober 2023 Unterlagen zur Berufsanerkennung ein. Einmal musste sie etwas nachreichen, wartete ab - und machte zwei zweimonatige Praktika im Gesundheitswesen.

Natürlich sei es richtig, dass Wissen und Dokumente genaustens geprüft werden, sagt sie. „Aber als ich hierherkam, dachte ich: Montag fängst du an zu arbeiten“, so die Ukrainerin. „Dass das alles so lange dauert, hätte ich nicht gedacht.“

Mathias Hallerbach von der Sagittarius Akademie in Bochum sagt:  „Die Verwaltungen sind mit der Berufsanerkennung massiv überfordert.“
Mathias Hallerbach von der Sagittarius Akademie in Bochum sagt:  „Die Verwaltungen sind mit der Berufsanerkennung massiv überfordert.“ © Sagittarius Akademie | Sagittarius Akademie

Weiterbildungsinstitut: Verwaltungen sind überfordert mit der Berufsanerkennung

Mathias Hallerbach von der Bochumer Sagittarius Akademie kennt viele solcher Geschichten. „Die Verwaltungen sind mit der Berufsanerkennung massiv überfordert“, sagt er. Das gelte nicht nur für medizinische Berufe. Er erlebe es immer wieder, dass Betroffene deutlich länger als die vorgeschriebenen drei Monate warteten. Auch stünden nicht genug Integrations- und Sprachkurse zur Verfügung.

Und er erlebe Absurditäten, sagt er und erzählt von einer Kranführerin aus der Ukraine, deren Lizenz umgeschrieben werden musste. 650 Euro habe das gekostet. „Das Jobcenter durfte das nicht übernehmen. Statt dass diese Frau nun als qualifizierte Kraft auf einer Baustelle arbeitet, ist sie Leistungsbezieherin.“ Die Sagittarius Akademie begleitet Ukrainer auf den Weg in Arbeit. Dazu beschäftigt sie die Ukrainerin Valeriia Kulakova als Jobcoach in Vollzeit.

Bundesamt: Wartezeit für Kurse hat sich verdoppelt - auf siebeneinhalb Wochen

Dauert es wirklich so lange? Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat sich die durchschnittliche Wartezeit auf einen Platz im Integrationskurs seit 2022 zwar nahezu verdoppelt - allerdings auf aktuell siebeneinhalb Wochen.

Was immer länger dauert, ist die Anerkennung von Abschlüssen und Qualifikationen: Bei der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen lagen 2022 rund 4000 ukrainische Zeugnisse vor, für 2024 werden 60.000 erwartet. Die reguläre Bearbeitungszeit von drei Monaten werde überschritten, heißt es. Von bis zu einem Jahr Wartezeit berichten Betroffene.

Ähnlich lange dauere das Anerkennungsverfahren etwa bei den Gesundheitsberufen, so die Klage. Sie laufen zentral über die Bezirksregierung Münster. 2023 gab es dort 4624 Anträge, zwei Jahre zuvor 1644. Laut Behörde dauerte es im vergangenen Jahr im Schnitt lediglich 102 Tage, bis ein Antrag auf Anerkennung im Bereich der Pflege- und Gesundheitsfachberufe bearbeitet ist. Das entspricht rund drei Monaten - Betroffene berichten von längeren Zeiträumen. Mitte September lagen dem Münsteraner Verwaltungsgericht sogar zwei Untätigkeitsklagen vor.

Die Bezirksregierung betont, dass die Bearbeitung länger dauern könnte, wenn etwa noch eine Aufenthaltserlaubnis beantragt werden müsse. Grundsätzlich geprüft wird nach Darstellung der Behörde, ob die ausländische Berufsqualifikation gleichwertig zur deutschen ist, dabei Gesetze und Ausbildungsordnungen herangezogen. Ebenso entscheidend ist demnach, dass jemand in dem Beruf auch gearbeitet hat und in welchem Umfang er das getan hat.

Zügiger scheint es bei Berufen innerhalb der Industrie- und Handelskammern zu laufen: Bei der „IHK Fosa“ in Nürnberg hieß es Anfang 2024, Anträge würden innerhalb der üblichen drei bis vier Monaten abgeschlossen.

Niederlande: 55 Prozent in Arbeit, aber nur drei Prozent unbefristet angestellt

Dass es schneller gehen kann, zeigen die Niederlande: Dort waren 2023 rund 55 Prozent der Geflohenen aus der Ukraine auch sozialversicherungspflichtig beschäftigt. In Deutschland waren es zu dem Zeitpunkt 25 Prozent. Anders als hierzulande gilt dort das Prinzip, die Menschen erst einmal in Arbeit zu bringen - egal, in welche. Für Roland Schüßler, Chef der NRW-Arbeitsagentur, ist das der falsche Ansatz: „Unser Weg mag länger dauern, aber ich bin fest davon überzeugt, dass er der nachhaltigere ist.“

Was er meint: Weniger als drei Prozent der ukrainischen Geflohenen in den Niederlanden waren 2023 unbefristet beschäftigt - in Deutschland waren es mehr als die Hälfte. Es gehe nicht nur darum, die Menschen schnell in irgendwelche Jobs zu bringen, „sondern sie gezielt zu beraten, damit sie eine Arbeit aufnehmen können, in der sie dann auch unbefristet bleiben können und auch wollen“.

Roland Schüßler, Chef der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagentur für Arbeit

„Die Menschen aus der Ukraine und den häufigsten Asylherkunftsländern, die in NRW in Arbeit gekommen sind, füllen mehr Plätze als das Düsseldorfer Fußballstadion hat.“

Roland Schüßler
Chef der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit

Schüßler macht deutlich, wie schnell zwei Jahre zur Integration in den Arbeitsmarkt vergehen können. Es dauere mehrere Wochen, bis der neunmonatige Integrationskurs beginne, auf den die Anerkennungsberatung von drei Monaten und die Anerkennung selbst folge. „Wenn man dann noch eine Qualifizierungs-Maßnahme und einen weiteren Sprachkurs machen muss, können zwei Jahre ins Land ziehen, bis wir überhaupt mit der Integrationsarbeit in den Arbeitsmarkt beginnen können“, so Schüßler. „Das möchten wir beschleunigen, indem wir Dinge gleichzeitig tun.“

Zeit sei der kritische Faktor bei der Arbeitsmarktintegration. Es gebe erste Modelle, bei denen schon in einer Flüchtlingsunterkunft Berufsberatung stattfindet. Zudem brauche es flächendeckend berufsbegleitende Sprachkurse, damit die Menschen ohne weitere Wartezeiten früher in Arbeit einsteigen können, ohne dass dabei die Sprache zu kurz komme.

Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zeigten, wie wichtig das ist: Ohne Zugewanderte wäre der Zuwachs an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen in NRW nicht machbar gewesen. Der Agenturchef zieht einen sportlichen Vergleich: „Die Menschen aus der Ukraine und den häufigsten Asylherkunftsländern, die in NRW in Arbeit gekommen sind, füllen mehr Plätze als das Düsseldorfer Fußballstadion hat.“

Lidiia Dudukalova will sich von ihrem Ziel nicht abbringen lassen. Sie hat Aussichten auf einen Helfer-Job in einer Physio-Praxis. Im Rahmen dessen kann sie sich auf ihre Qualifizierungsmaßnahmen vorbereiten.

Hinweis: In einer vorherigen Fassung des Textes hieß es, dass in NRW rund 116.500 erwerbsfähige Ukrainerinnen und Ukrainern gemeldet sind, von denen etwa 26.500 in Arbeit und Ausbildung sind. Das ist nicht korrekt. Diese 116.500 Menschen waren den Jobcentern zur Arbeitsmarktvermittlung gemeldet, davon waren aber 26.500 gar nicht arbeitslos, sondern in Arbeit, Schule oder Ausbildung.