Gelsenkirchen. Sie sei eine „durchschnittliche“ Schülerin gewesen, sagt die 25-Jährige, nie Klassenbeste. Doch dann entdeckte sie ihr Talent.
Ihrer Mutter hat Elif Bayat versichert, dass Oxford gar nicht so weit entfernt sei von Bottrop, „so Luftlinien-mäßig betrachtet“. Tatsächlich ist die noble University of Oxford für ein Ruhrgebietsmädchen mit türkischen Wurzeln wie sie „eine andere Welt“. 55 Nobelpreisträger und 30 Premierminister hat diese Uni, eine der renommiertesten überhaupt, hervorgebracht. Nun macht dort Elif Bayat aus Bottrop ihren Master: ein „RuhrTalent“.
Ende März sei die Zusage aus Großbritannien gekommen, erzählt Elif am Tag vor dem Abflug bei einem letzten Besuch im Zentrum für Talentförderung in Gelsenkirchen – ohne dessen Unterstützung sie diesen Weg nie gegangen wäre. An die 500 junge Menschen hätten sich um einen der 25 Plätze für ihren Studiengang „Global Governance and Diplomacy“ beworben, sagt Elif, noch immer überglücklich. Sie erhält sogar ein Voll-Stipendium, das für Studiengebühren und Lebenshaltungskosten aufkommt; ein Stipendium, um das man sich nicht bewerben kann. „Clarendon-Scholarships“ werden vergeben – für herausragende akademische Leistungen, an jährlich 140 Studenten, von denen sich Oxford Großes erhofft.
„Erst in der Kita hab ich Deutsch gelernt“
Elifs Großväter kamen in den 60er-Jahren aus zwei Dörfern bei Zonguldak an der türkischen Schwarzmeerküste ins Ruhrgebiet, um hier im Bergbau zu schaffen. Elifs Eltern sind noch in der Türkei geboren. Ihr Vater hat nie einen Beruf erlernt, verdingt sich als Kraftfahrer; die Mutter, eine Bürokauffrau, blieb daheim, als die Kinder geboren wurden.
Die muslimische Familie, um Integration bemüht, schickte die Tochter in einen katholischen Kindergarten, später in eine katholische Grundschule. „Erst in der Kita“, erinnert sich Elif, „hab ich Deutsch gelernt.“ Längst können es auch die Eltern, aber daheim wird noch heute Türkisch gesprochen. Elif machte sich gut, wechselte 2010 ans Bottroper Heinrich-Heine-Gymnasium.
„Es sind die mittelmäßigen Schüler, die zu oft durchs Raster fallen“
„In meiner Klasse“, erinnert sich Elif, „gab es nur vier weitere Schüler aus Nicht-Akademiker-Familien und nur einen anderen mit türkischem Hintergrund.“ Sie habe nie gefragt, was die Eltern der anderen Kinder beruflich machten. Aber sie lernte: „Sie können ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen.“ Ihre konnten es nicht. Doch sie kümmerten sich, wenn es irgendwo hakte, bezahlten Nachhilfestunden. „Notentechnisch kam ich deshalb durch, ich war durchschnittlich und unauffällig“, berichtet Elif.
Es sind genau diese „mittelmäßigen“ Schüler, weder Einser-Kandidat noch versetzungsgefährdet, die zu oft durchs Raster fielen, sagt Marcus Kottmann, Leiter des NRW-Zentrums für Talentförderung. „Begabtenförderung wird immer noch als Förderung derjenigen mit den besten Noten verstanden, dabei schlummern auch im Mittelfeld wahnsinnig viele Begabungen, viele Talente. Und nach denen suchen wir.“
MIt 17 wurde Elif Bottrops erstes „Ruhr-Talent“
Das Stipendienprogramm „RuhrTalente“ für „engagierte und leistungsorientierte Schüler*innen mit Teilhaberisiken“ wurde gemeinsam von Westfälischer Hochschule Gelsenkirchen und RAG-Stiftung entwickelt. Schirmherrin ist NRWs Ministerin für Schule und Bildung. Umgesetzt wird es vom Zentrum für Talentförderung. Elif bewarb sich – und wurde mit 17 das erste Bottroper Ruhr-Talent.
„Von da an änderte sich fast alles“, sagt die heute 25-Jährige.
„Niemand, den ich kenne, war diesen Weg zuvor gegangen“
Nicht, dass sie nicht schon damals gewusst hätte, wo ihre Stärken liegen. „Mein Lieblingsfach war Sowi, und mir war klar, es sollte beruflich irgendwie in diese Richtung gehen. Doch niemand, den ich kenne, war diesen Weg zuvor gegangen, ich wusste nicht, wie ich meinen Traum verwirklichen könnte.“ Die Talentförderer wussten es. „Sie schleppten mich zu 1000 Veranstaltungen, hatten Antworten auf meine Fragen, stärkten mein Vertrauen in meine Fähigkeiten“, erinnert sich Elif. Man bereitete sie auf Bewerbungsgespräche vor, holte sie in Englisch-Qualifizierungskurse. „Und zum allerersten Mal in meinem Leben war ich mit denen auch in einer Oper“, erinnert sich Elif.
Nach dem Abi machte Elif ein Freiwilliges Soziales Jahr im Düsseldorfer Landtag. Sie arbeitete Abgeordneten der Grünen zu, darunter der späteren Ministerin Josefine Paul. „Anfangs habe ich das als voll krass empfunden, mit 19 einen Schlüssel für den Landtag zu haben“, sagt Elif. „Aber irgendwann gewöhnt man sich dran, dass jeden Tag so ein Armin Laschet an dir vorbei geht.“
Praktika bei den Vereinten Nationen, Jugenddelegierte beim Weltklimagipfel
Danach studierte Elif Soziologie und Politikwissenschaften in Frankfurt, machte 2022 ihren Bachelor, als beste ihres Jahrgangs. Gleichzeitig und danach reihte sich ein hochkarätiges Praktikum, ein ehrenamtliches Engagement, ein Stipendium ans nächste – viel zu viele, um sie hier alle aufzuzählen. Elif war etwa als Jugenddelegierte beim G 20-Gipfel in Indien dabei und für die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Washington; sie arbeitete für das Goethe-Institut in Kairo und die Weltklimakonferenz in Dubai, mehrfach auch für die Vereinten Nationen. Sie muss selbst überlegen, wann und wo genau, aber: „Das erste Mal war in Rom, beim Welternährungsprogramm“. Bei jedem Schritt, bei jeder Bewerbung begleiteten sie: die Gelsenkirchener Talentförderer.
„Am Ende sollen die Richtigen an der Startlinie stehen, und das nicht barfuß, wenn die anderen Spikes haben.“
„Praktische Exzellenz“ habe die junge Frau aus Bottrop so erworben, glaubt Marcus Kottmann, „einzigartige Exzellenz“. Er lobt ihre „unfassbare Zielstrebigkeit“, ihr „Durchsetzungsvermögen“. Und gesteht, dass mit dem Mädchen aus Bottrop auch ein Traum der Talentförderer wahr geworden sei. „Dass es eine von uns in die Ivy League schafft, an eine der Spitzen-Unis.“ Kottmann sieht Elifs Erfolg als eindrücklichen Beleg dafür, dass natürlich auch junge Menschen aus dem Ruhrgebiet zu Spitzenleistungen fähig sind, dass es hier vor allem an der „Kultur“ mangele, das zu erkennen und zu fördern. Nur 0,2 Prozent aller Studenten aus dem Ruhrgebiet würden von einem der 13 deutschen Begabtenförderwerke aufgenommen – bei den Ruhr-Talenten sind es über 30 Prozent.
Der nächste Gast der Ruhr-Talente: eine Dachdeckerin
Natürlich gingen seine Scouts aber nicht raus an die Schulen, „um eine Elif zu suchen, die dann nach Oxford geht. Wir zielen auf die Breite. Wir wollen Chancengleichheit schaffen, für Kinder aus Strukturen, die sie nicht unterstützen können. Am Ende sollen die Richtigen an der Startlinie stehen, und das nicht barfuß, wenn die anderen Spikes haben.“ Nicht jedes Talent, betont Kottmann, müsse zudem an der Uni landen. Fürs nächste Ruhr-Talente-Treffen haben sie eine Dachdeckerin eingeladen, eine Frau, die ihren Beruf mit Leidenschaft lebt und dafür werben will.
Elif ist dann schon in Oxford, sie freut sich wahnsinnig drauf. Die Kleiderordnung für die Immatrikulationsfeier hat man ihr bereits zugesendet: weiße Bluse, schwarzer Rock und „so ein Ding für um den Hals“. Elif wird bei den Talentförderern nachfragen, wo sie es bekommen kann.