Hamburg. Bei „nüchtern“ im Hamburger Karoviertel gibt es 200 alkoholfreie Getränkealternativen. Dahinter steckt ein neuer Trend.

Auch wenn in Hamburg der besondere Geschäftstypus des Berliner Spätis noch nicht so bekannt ist, wissen inzwischen wohl die meisten, dass die Mini-Märkte nahezu rund um die Uhr die Getränkeversorgung sichern. Vor allem die mit Promille. Insofern war es durchaus ein Wagnis, als die zugezogene Berlinerin Isabella Steiner vor drei Jahren im eher trinkfesten Kreuzberger Bergmann-Kiez den „ersten alkoholfreien Späti Deutschlands“ eröffnete.

Inzwischen ist klar: Die Idee funktioniert. Und zwar so gut, dass die Start-up-Unternehmerin mit ihrem rauschfreien Konzept jetzt nach Hamburg expandiert. An diesem Donnerstag eröffnet im Karoviertel die erste nüchtern-Filiale außerhalb der Hauptstadt.

Alkoholfreie Drinks: 200 Getränkealternativen mit null Promille im Sortiment

Im Schaufenster des Ladenlokals an der Glashüttenstraße, in dem bisher Blumen verkauft wurden, prangt selbstbewusst der neue Schriftzug: „Hamburg wird nüchtern. Endlich“. Drinnen stehen einige Tage vor der Eröffnung schon die ersten Regale mit unterschiedlichen Flaschen. „Wir haben etwa 200 Produkte von mehr als 50 Herstellern im Sortiment“, sagt Isabella Steiner.

Sekt und Wein, Gin und Aperol, Rum und Wodka, natürlich auch Bier – zu allen Getränke-Bestsellern gibt es längst diverse alkoholfreie Alternativen. „Wir wollen die einseitige und promillelastige Trinkkultur erweitern“, erklärt die nüchtern-Geschäftsführerin ihre Mission.

Steiner ist Soziologin. Seit Jahren beobachtet sie gesellschaftliche Trends. Dabei fiel der 34-Jährigen auf, wie sehr Alkoholkonsum bei den meisten Menschen zur Normalität gehört. „Es ist mittlerweile schwierig geworden, ein Glas abzulehnen, ohne dass man dabei entweder überredet, nicht ernst genommen, verurteilt oder als Spaßbremse abgestempelt wird.“

Nachdem sie selbst über einige Zeit eine Art Alkohol-Tagebuch geführt hatte, in dem sie „statt Kalorien Kater zählte“, entstand die Idee für nüchtern.berlin. Im Oktober 2020 eröffnete sie damals noch mit einer Geschäftspartnerin in Berlin-Kreuzberg ihren ersten Pop-up-Shop mit Getränkealternativen ohne Alkohol.

Beim Fachhändler „nüchtern“ gibt es mehrere Alternativen zu beliebten Mixgetränken wie Aperol.
Beim Fachhändler „nüchtern“ gibt es mehrere Alternativen zu beliebten Mixgetränken wie Aperol. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

„Ich habe die Chance gesehen, einen Markt mitzugestalten, der sonst niemanden so richtig interessiert“, sagt Isabella Steiner. „Mindful drinking“ lautet das Schlagwort für eine Entwicklung, die aus dem angelsächsischen Raum kommt. Auch in Deutschland ist der Alkoholkonsum in den vergangenen Jahren nach Angaben des Bundesgesundheitsministerium leicht gesunken – auch wenn er im internationalen Vergleich weiterhin im oberen Zehntel liegt.

Getränkeindustrie steigert Angebot an Null-Promille-Produkten

Dabei gibt es gerade auch bei jüngeren Menschen viele Gründe, keinen oder weniger Alkohol zu trinken: steigendes Gesundheitsbewusstsein, Schwangerschaft und Stillzeiten, Religionszugehörigkeit, schwere Krankheiten oder ein bestimmter Lifestyle. „Es geht nicht nur um Alkoholsucht und ihre Gefahren“, sagt nüchtern-Gründerin Steiner, die auch Mitautorin eines Buches zum Thema ist.

Die Getränkeindustrie hat das Potenzial erkannt und steigert das Angebot an sogenannten NOLO-Alternativen. Das steht für „no and low alcohol“, übersetzt: kein oder wenig Alkohol. Ähnlich wie im Bereich der Fleischalternativen haben sich zahlreiche neue Hersteller etabliert, wie etwa Siegfried, Laori, Lyre’s, Undone, Polly oder Kolonne Null.

Aber auch bekannte Marken wie Mumm oder Martini und große Handelsketten wie der Hamburger Weinhändler Hawesko haben inzwischen ganz selbstverständlich alkoholfreie Varianten im Sortiment. Gemäß einer Prognose des auf alkoholische Getränke spezialisierten britischen Marktforschungsinstituts IWSR wird allein das Geschäft mit alkoholfreiem Wein zwischen 2021 und 2025 weltweit um neun Prozent pro Jahr wachsen.

Nach den Flexitariern kommen jetzt die Flextrinker. „Es geht nicht um ,Nein’ zu Alkohol, sondern um ,Ja’ zu alkoholfrei“, sagt die nüchtern-Gründerin. Ihr gehe es darum, gute und interessante Alternativen aufzuzeigen. „Die Frage ist: Was braucht alkoholfrei, damit es getrunken wird?“ Qualität und Geschmack spielen dabei eine wichtige Rolle, aber natürlich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung.

Nüchtern hat 50.000 Flaschen mit alkoholfreien Getränke-Alternativen verkauft

Nachdem sie in ihrem ersten Laden so ziemlich alles, was auf dem Markt war, ins Sortiment genommen habe, werde die Auswahl inzwischen „sorgfältig kuratiert“. „Wir sind mit 10.000 Kundinnen und Kunden der führende Fachhändler für alkoholfreie Getränke“, so Gründerin Steiner. 50.000 Flaschen hat nüchtern inzwischen in dem Berliner Laden und über den Onlineshop verkauft.

Dabei sind die Preise wegen der aufwendigen Produktion teilweise sogar höher als bei alkoholhaltigen Getränken. Bei nüchtern bewegt sich die Spanne zwischen 8,90 und 29,90 Euro. Im vergangenen Jahr lag der Firmenumsatz nach eigenen Angaben bei knapp einer Million Euro. „Wir sind profitabel“, sagt Unternehmerin Steiner, die aktuell vier Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beschäftigt.

Weitere Null-Promille-Läden geplant

Zu den Kunden gehören neben Privathaushalten zahlreiche Gastronomen, darunter auch Sterneköche, die die alkoholfreien Getränkealternativen auf ihren Speisekarten anbieten. Firmen buchen Alkoholfrei-Tastings und -Partys. Immer wieder wird Steiner auch zu Konferenzen, Tagungen und Fachmessen eingeladen. So etwa auch zu Winzer-Treffen. „Anfangs schlug mir noch viel Skepsis entgegen, inzwischen steigen immer mehr Weinbauern in den Markt ein.“

Für dieses Jahr hat die Start-up-Unternehmerin große Pläne. Schon 2022 waren Investoren in das Start-up eingestiegen. Gerade startet eine weitere Finanzierungsrunde. „Wir brauchen Geld, um zu wachsen“, sagt die Gründerin. Das ehrgeizige Umsatzziel: „plus 25 Prozent“. Nach Hamburg sind weitere Eröffnungen in Berlin und München geplant.

Null-Promille-Laden sucht Beschäftige

Erst mal will sie aber den Laden im Karoviertel zum Laufen bringen. Aktuell sucht Isabella Steiner noch Personal. Neben einem großen Angebot an alkoholfreien Trinkalternativen soll es auch Veranstaltungen geben. Ein Späti im Wortsinn ist nüchtern in Hamburg übrigens nicht. Zum Start sind die Öffnungszeiten mittwochs bis sonnabends von 12 bis 19 Uhr.