Hamburg. Auch Bauriese Wulff sucht verzweifelt. Straßen und Schulen werden nicht fertig. Sind Beton-Drucker aus Norderstedt die Lösung?
Auf dem Betriebshof des Hamburger Bauunternehmens Otto Wulff in Billstedt herrscht reges Treiben. Bauarbeiter werfen Kreissägen an, ein Betonmischer dreht sich und Lastwagen fahren frisches Baumaterial heran. Mittendrin steht der Geschäftsführende Gesellschafter, Stefan Wulff, und erklärt, warum er vor seiner eigenen Haustür baggert. „Wir bauen eine neue Unternehmenszentrale.“ Noch sitzen zahlreiche seiner Ingenieure und Bauplaner in übereinander gestapelten Bürocontainern. „Das kann ja keine Dauerlösung sein“, sagt er.
Schaut man sich die Größe des Rohbaus an, dann wird schnell klar: Es läuft bei Otto Wulff. Das Unternehmen mit seinen 600 Mitarbeitern gehört zu den größten Baufirmen in Norddeutschland. Wohnungen, Gewerbebauten, Krankenhäuser, Schulen – an etlichen Baustellen prangt das Otto-Wulff-Schild längst nicht mehr nur in Hamburg, sondern auch in anderen deutschen Metropolen.
Fachkräftemangel: Der Baubranche fehlen die Mitarbeiter
„Unsere Auftragsbücher sind voll“, sagt Stefan Wulff, der das Unternehmen in dritter Generation führt. Sie könnten aber noch voller sein, gibt Wulff zu, wenn er nicht auf viele Bauprojekte verzichten müsste, weil ihm die Fachkräfte fehlen. „Das ist eines der ganz großen Probleme, das das Wachstum in unserer Branche behindert. Uns fehlen die Fachleute auf dem Bau.“ Das Problem sei so extrem, dass auch Infrastrukturprojekte wie Schul- und Straßenbau unter Verzögerungen zu leiden hätten, weil der Branche die Leute fehlen. Wulff muss beispielsweise jede dritte Ausschreibung aus Kapazitätsgründen absagen oder nach hinten schieben.
Ähnliche Erfahrungen macht der städtische Projektentwickler Sprinkenhof. Das Unternehmen verweist zudem auf ein unglückliches Zusammenspiel des Fachkräftemangels mit den gestörten Lieferketten und fehlenden Baumaterialien. Dadurch komme es zu einem erhöhten Koordinationsaufwand, um die Projekte trotz fehlender oder verspätet eintreffender Baumaterialien pünktlich fertigzustellen, sagt Unternehmenssprecher Lars Vieten.
„Zusätzlicher Koordinationsaufwand bedeutet erhöhten Personalaufwand, die hierfür erforderlichen Fachkräfte fehlen jedoch vielfach. Die Kombination aus Fachkräftemangel und den Lieferengpässen aufgrund der vorgenannten Umstände führen leider immer wieder zu Verzögerungen in den Projekten und teilweise auch zu späteren Übergaben der Gebäude“, ergänzt Vieten.
Agentur für Arbeit meldet 12.155 offene Stellen beim Bau
Der Hamburger Agentur für Arbeit zufolge meldet die Branche derzeit 12.155 offene Stellen in der Stadt, die nur äußerst schwer zu besetzen sind. Maler, Tiefbauer, Bodenverleger, Klempner, Klimatechniker, Stuckateure, ja selbst Architekten suchen alle in der Regel mehr als ein halbes Jahr nach qualifizierten Mitarbeitern für ihre Betriebe. „Uns fehlen auch Ingenieure und sogar Fachkräfte im Controlling und Rechnungswesen“, sagt Bauunternehmer Wulff.
Gerade in spezialisierten Berufen wie Klimatechnik ist die Zahl der Bewerber in Hamburg klein. „Wir haben einige Berufe im Baugewerbe, da kommen rein rechnerisch auf zehn offenen Stellen nur zwei Bewerber. 80 Prozent der Stellen können also nicht besetzt werden“, sagt Michael Seitz, Hauptgeschäftsführer der Hamburger Bau-Innung. Die Lage sei so angespannt, dass Firmen anfingen, ihren Konkurrenten die Leute aktiv abzuwerben. Wenn ein Betrieb schließt, sind als Erstes die Mitarbeiter weg. „Es kommt vor, dass Firmen andere Betriebe aufkaufen – nicht weil sie an deren Geschäft interessiert sind – sondern an der Qualifikation ihrer Mitarbeiter“, sagt Seitz.
Die Lage ist auf dem Bau überall gleich dramatisch
„So etwas tun wir nicht“, betont Bauunternehmer Wulff für seine Firma. Wenn es aber Mitarbeitern gelänge, neue Kräfte für das Unternehmen anzuwerben, zahle er eine Prämie. Zur Höhe macht Wulff keine Angaben. Es geht dabei aber nicht um 100 oder 200 Euro, sondern um deutlich höhere Summen.
Fachkräfte aus anderen Landesteilen nach Hamburg holen zu wollen, ergibt keinen Sinn. Die Lage ist überall gleich dramatisch. Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) warnt sogar vor einem „Burn-out“ in der Branche. Sie verweist auf Zahlen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Demnach habe die Bauwirtschaft im ersten Quartal 2022 bundesweit 191.000 offene Stellen verzeichnet. Das ist ein Problem: Im Bauhauptgewerbe hat nämlich der Auftragsbestand nach jüngsten Berechnungen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) das höchste Volumen seit der Wiedervereinigung erreicht. Der Auftragsstau am Bau ist damit größer als zur Hochzeit des Aufbaus Ost.
Viele Azubis halten nicht bis zum Schluss durch oder wechseln
Den demografischen Wandel für diese Lücke verantwortlich zu machen, wäre zu einfach, denn der wird erst in einigen Jahren durchschlagen. Vielmehr sind es brancheninterne Gründe, die zur Blutarmut auf dem Bau geführt haben. Durchschnittlich 15.000 Azubis in Deutschland würden in der Baubranche jährlich ihre Ausbildung anfangen während 14.000 Ältere in Rente gingen. Das klinge ja noch ganz gut, sagt Seitz. Von den 15.000 Azubis würden aber nur 10.000 ihre Lehre bis zum Schluss durchhalten. Nach weiteren fünf Jahren seien abermals 5000 der ausgebildeten Fachkräfte in andere Berufe abgewandert, rechnet er vor.
Ursache für den Schwund sei die starke Konkurrenz durch branchenverwandte Firmen, etwa in der Industrie. Bei einem Automobilhersteller steht man in einer trockenen Halle, hat klar in Schichten eingeteilte Arbeitszeiten und muss sich keine Gedanken darüber machen, dass im nächsten strengen Winter möglicherweise wieder Kurzarbeit droht. Insbesondere das Erstarken der Luftfahrtindustrie und der Ausbau des Airbus-Standorts in Hamburg habe seit den 1980er-Jahren zu einem Aderlass im Bau geführt, sagt Wulff.
Osteuropäische Arbeiter bieten Leistungen deutlich billiger an
Zugleich gibt er der eigenen Zunft eine Mitschuld: „Die vor 20 Jahren um sich greifende Praxis, Arbeitsaufträge an osteuropäische Firmen zu vergeben, hat den Bau als Handwerksberuf hierzulande unattraktiv gemacht. Jetzt müssen wir diese Fehler beheben.“ Wobei Otto Wulff zu den wenigen Firmen gehöre, die noch sehr viele Aufträge mit den eigenen Mitarbeitern ausführen. Insgesamt kann die Branche das Rad aber nicht zurückdrehen. Gerade bei einfachen Arbeiten wie im Trockenbau sind osteuropäische Arbeitskräfte unverzichtbar, nicht zuletzt, weil sie ihre Leistungen um ein Vielfaches billiger anbieten als Deutsche.
Ein bulgarischer Bauarbeiter verdient in seiner Heimat im Schnitt im Monat umgerechnet 350 Euro. „Wir werden auch weiterhin ungelernte Kräfte aus Osteuropa einsetzen müssen. Deshalb ist eine Verlängerung der Westbalkan-Regel wichtig, die die Arbeit von Nicht-EU-Mitgliedern bei uns regelt“, sagt Innungschef Seitz. „Das allein wird allerdings unser Problem nicht lösen. Ein Ungelernter kann vielleicht eine 30 Meter lange gerade Mauer bauen. Wenn die aber dreimal um die Ecke gehen soll ist schon Schluss. Man kann ausschließlich mit ungelernten Arbeitern kein Haus bauen, in dem jemand leben soll. Wir benötigen also weiterhin Fachkräfte.“
Stefan Wulff will Berufsanerkennung liberalisieren
Wulff setzt zum einen auf Nachwuchswerbung. Er geht mit Azubis in Schulen, um Jugendliche möglichst früh für den Bauberuf zu begeistern und wirbt auch in sozialen Netzwerken für eine Ausbildung in seinem Unternehmen. Zugleich sagt er: „Ohne Zuwanderung werden wir den Fachkräftemangel nicht in den Griff bekommen.“ Und da die meisten Länder, aus denen Flüchtlinge kommen, keinen Gesellenbrief kennen, plädiert er auch gleich für eine Liberalisierung der Berufsanerkennung. „Wir müssen alte Zöpfe abschneiden und auch andere Berufsausbildungen zulassen.“ Stefan Wulff plant auf seinem Firmengelände ein Wohnheim für Azubis mit 65 Plätzen.
Innungsgeschäftsführer Seitz fügt an: „Wir müssen auch mehr Frauen für Bauberufe gewinnen, außer im Tischlerhandwerk gibt es hier kaum welche. Auch Hochschulabbrecher sollten von uns ins Auge gefasst werden. Und dann müssen wir mehr Anreize für Rückkehrer bieten, die nach ihrer Ausbildung im Bau in eine andere Branche gewechselt sind, sich nun aber einen Wiedereinstieg vorstellen können.“ Gleichwohl räumen beide ein, dass es sehr schwer wird, Fehler der Vergangenheit zu korrigieren.
Start-up setzt auf 3-D-Druck-Lösungen
In einem Gewerbegebiet in Norderstedt wird derweil an einer möglichen Lösung für das Fachkräfteproblem gearbeitet. Hier sitzt das 2019 gegründete Start-up-Unternehmen Aeditive. Es ist das erste deutsche Unternehmen, das 3-D-Druck-Lösungen für Betonfertigteile anbietet. „Wir entwickeln Roboteranlagen, mit denen sich Betonfertigteile automatisiert herstellen lassen“, sagt Simon Viezens, Mitarbeiter der Geschäftsführung bei Aeditive. Das sei schneller, weil nicht erst Schalen hergestellt werden müssten, in denen die Betonteile dann gegossen würden. „Zum anderen hat der wachsende Fachkräftedruck bei der Projektentwicklung eine Rolle gespielt.“
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Eine Anlage hat das junge Unternehmen bereits zur Serienreife gebracht, die einen Betonbauer bei der modularen Baufertigung unterstützen soll. „Unsere Anlagen sind weniger für die Fertigung einfacher Betonplatten gedacht, als für aufwendige Bauteile wie Treppen, die mit dem herkömmlichen Betongussverfahren kompliziert herzustellen sind“, so Viezens.
Fachkräftemangel: Nicht alle Arbeiten können ohne Menschen erledigt werden
Eine Lösung für die Zukunft? „Bis zu einem gewissen Grad können Arbeiten auch schon automatisch erledigt werden, beispielsweise werden Gebäude künftig häufiger mit vorgefertigten Elementen errichtet“, sagt Seitz. Es würden also in Zukunft weniger Menschen auf Baustellen zu sehen sein. Dies werde aber den bestehenden Fachkräftemangel damit ausgleichen können. „Das halte ich auf absehbare Zeit für ausgeschlossen.“