Ob Sondergipfel, Märkte im Ausnahmezustand, Politiker-Rücktritte und Schockwellen nach Ratingurteilen: 2011 gilt als das Euro-Krisenjahr.
Berlin. Nichts ist wie es war: Dieser Satz gilt nach dem Euro-Krisenjahr 2011. Es brachte Gipfel und Rücktritte in Serie, Achterbahnfahrten an den Börsen, Angst vor Staatspleiten und Furcht vor Urteilen von Ratingagenturen. Und es war das Jahr der Erkenntnis, dass beim Gemeinschaftsprojekt Währung alles untrennbar mit allem zusammenhängt: Die deutsche Konjunktur mit den französischen Banken, mit den spanischen Schulden, mit der Regierung in Griechenland. Eine Chronik der Krise in acht Schlaglichtern:
Viele Gipfel, doch nie übern Berg: Wie Europa die Krise managte
Sonder-Krisengipfel in Serie – fast schon im Monatstakt kamen Regierungschefs und Finanzminister in Brüssel zusammen, um den Euro zu retten. Ein erster Versuch: Im Juni beschließen die EU-Finanzminister, den Rettungsschirm EFSF größer und stabiler zu machen. Damit bis zu 440 Milliarden Euro an Krediten gezahlt werden können, müssen die Garantien der Euro-Länder auf 780 Milliarden Euro steigen. Deutschlands Anteil erhöht sich auf 211 Milliarden.
Kanzlerin Merkel verteidigt das: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Im September stimmt der Bundestag diesem Plan in einer dramatischen Abstimmung zu. Lange war unklar, ob es überhaupt eine Mehrheit geben würde – am Ende kann sich Merkel sogar über ihre Kanzlermehrheit freuen.
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Doch längst wissen alle, dass der bisherige Schirm weitere Länder wie Spanien oder gar Italien nicht wird beschützen können. Sein Volumen soll deshalb geradezu gigantische Ausmaße annehmen: Ende Oktober beschließt ein weiterer Krisengipfel mehrere Instrumente, mit denen die Schlagkraft auf eine Billion Euro erhöht werden soll – der Fonds wird „gehebelt“, wie Finanzfachleute sagen. Doch ob sich die letzten finanzstarken Geldgeber wie China wirklich wie erhofft beteiligen, steht in den Sternen.
Zum größten Schlag holt der letzte Krisengipfel des Jahres aus: 17 Euro-Länder plus neun weitere EU-Länder schließen einen Pakt für mehr Haushaltsdisziplin. Schuldenbremsen in den Eurostaaten und automatische Sanktionen gegen Defizitsünder werden festgeschrieben. Eurobonds – die vielfach geforderten gemeinsamen europäischen Staatsanleihen – kommen nicht. Erst einmal. Merkel spricht von einem Durchbruch: „Wir gewinnen Glaubwürdigkeit zurück, Schritt für Schritt, und schaffen eine neue Basis des Vertrauens.“
Einer stellt sich abseits: Großbritanniens Premier David Cameron kämpft für die Privilegien des Finanzplatzes London, sagt am Ende „No“ zu einem Vertrag aller 27 und schürt so Spekulationen über einen EU-Abschied der Briten.
Jenseits der Gipfel-Bühnen werden informelle Verhandlungskreise immer wichtiger. Etwa die „Frankfurter Runde“: Sie wird geboren, als der französische Präsident Nicolas Sarkozy am 19. Oktober überraschend zu einem Treffen mit deutscher Kanzlerin, IWF-Chefin, EZB-Präsident und EU-Größen anreist. Währenddessen bekommt seine Frau Carla Bruni-Sarkozy in Paris ein Kind.
Verstärkt treten Merkel und Sarkozy als Tandem auf, etwa im August, als sie auf einem Sondertreffen eine „tatsächliche Wirtschaftsregierung in Europa“ fordern. Dass „Merkozy“ so oft voranpreschen, missfällt vielen kleineren Euro-Ländern. Und nicht zuletzt der EU-Kommission.
Ratingagenturen: Wie Buchstaben-Codes Europa veränderten
Nie waren die Herren der Ratings mächtiger: Die Bonitäts-Bewerter trieben die Politik im Jahr 2011 mit ihren Drohungen und Abstufungen vor sich her, erzwangen Krisengipfel um Krisengipfel. Inzwischen scheint das Schicksal ganzer Volkswirtschaften an Codes wie „AAA“ oder „BB+“ zu hängen – entscheiden diese doch mit darüber, ob Staaten noch zu vertretbaren Zinsen an Geld kommen.
Unter einem Kurzzeit-Schock steht Frankreich am 10. November, als Standard & Poor’s dem Land seine Top-Bonität „versehentlich“ aberkennt. Auch angesichts solcher Pannen werfen viele den Agenturen vor, bewusst Unruhe zu verbreiten und alle Bemühungen zur Euro-Rettung auszublenden.
Die Illusion, dass Deutschlands Top-Rating unantastbar ist, zerplatzt am 5. Dezember, als S&P zu einem Rundumschlag ausholt. Die Ratingagentur setzt den Ausblick für die Kreditwürdigkeit von 14 Staaten auf „negativ“ – eine rasche Abwertung ist jetzt möglich. Deutschland und Frankreich nehmen den Warnschuss „zur Kenntnis“. Auch mit den Gipfelbeschlüssen von Anfang Dezember zeigen sich die Ratingagenturen einmal mehr unzufrieden: Nur wenige der angekündigten Maßnahmen seien neu. Kurzfristig ließen sich die hypernervösen Kreditmärkte so nicht stabilisieren. 2012 könnte für die letzten verbliebenen „AAA“-Staaten mit dem Verlust des Top-Ratings beginnen.
Austritt, Rauswurf, oder...? Wie Griechenland ums Überleben kämpfte
Bis an den Abgrund und ein Stück darüber hinaus: Griechenland war 2011 mehrfach so gut wie pleite. Die schlimmste Hiobsbotschaft im Fall Hellas bringen die Euro-Finanzminister Ende Oktober: Das geplante zweite Hilfspaket reicht nicht, Athen braucht noch mehr Geld. Eine Brüsseler Nachtsitzung bringt schließlich einen Durchbruch. Die privaten Geldgeber erklären sich bereit, auf 50 Prozent ihrer Forderungen zu verzichten – aber werden sie ihr Versprechen halten? Athen bekommt nun weitere 100 Milliarden Euro öffentliche Hilfen plus Garantien von 30 Milliarden.
Kurz darauf kündigt Regierungschef Giorgos Papandreou völlig überraschend an, sein Volk über die geplanten Sparmaßnahmen abstimmen zu lassen. Merkel und Sarkozy zitieren ihn zum Rapport – selbst ein Ende der griechischen Euro-Mitgliedschaft ist jetzt kein Tabu mehr. In den folgenden innenpolitischen Wirren verliert Papandreou sein Amt.
Der Fall Griechenland führt auch vor Augen, wie die Krise die Falschen trifft: Während Arbeitslose und Rentner bluten müssen, hinterziehen wohlhabende Griechen weiterhin geschätzte 13 Milliarden Euro an Steuern pro Jahr. Ihr Geld legen sie mit Vorliebe außerhalb der Eurozone an – etwa in Londoner Luxusimmobilien. Eine Task Force unter Leitung des deutschen Finanz-Feuerwehrmanns Horst Reichenbach versucht derweil, die marode Verwaltung des Landes zu sanieren.
Turm in der Schlacht: Wie ein Kampf um die EZB-Strategie entbrannte
Griechenland war zwar der Auslöser der Euro-Kettenreaktion - inzwischen ist das Land aber nur noch ein Schauplatz von vielen. Weil sich auch Spanien und Italien infizierten, fiel der Europäischen Zentralbank (EZB) notgedrungen immer stärker die Rolle des Retters zu. Seit Mai 2010 kauft sie Staatsanleihen von Krisenländern, nach letzten Zahlen sind es inzwischen 207 Milliarden Euro. Eine höchst umstrittene Maßnahme, weil die EZB damit Staatsschulden über ihre Bilanz finanziert.
Bundesbank-Chef Axel Weber hatte sich mit seiner Haltung im EZB-Direktorium nicht durchsetzen können, er tritt im Februar überraschend zurück. Spätestens mit Webers Rücktritt ist klar, dass er nicht mehr Nachfolger des scheidenden EZB-Chefs Jean-Claude Trichet werden kann. Den Job bekommt der Italiener Mario Draghi. Ähnlich liegt der Fall von EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark, der „aus persönlichen Gründen“ geht. Auch er gilt als Stabilitätswächter, der sich nie mit den Staatsanleihen-Käufen der EZB anfreunden konnte. Für die Nachfolge ist Finanzminister Wolfgang Schäubles rechte Hand vorgesehen: Staatssekretär Jörg Asmussen.
Im Gegensatz zu den Deutschen in der EZB und zur Bundesregierung sehen etliche Ökonomen und Politiker den letzten Ausweg in einer drastischen Ausweitung der Anleihen-Käufe: Die Rede ist vom Einsatz einer „großen Bazooka“, einer Waffe mit so viel Feuerkraft, dass die Krise möglichst auf einen Schlag beendet wird. Dies würde jedoch ein Anwerfen der Notenpresse mit großen Inflationsrisiken bedeuten – und den endgültigen Abschied von den D-Mark-Prinzipien der Bundesbank.
Déjà-Vu: Wie Banken wieder in den Strudel gerieten
Anfangs hatte Europa eine Staatsschuldenkrise – im Laufe des Jahres produzierte diese auch noch eine Bankenkrise. Aktien von Geldhäusern und Versicherungen gerieten immer stärker unter Druck, nicht zuletzt, weil sie massenhaft südliche Staatsanleihen in den Depots hatten.
Im Spätsommer ist das Misstrauen unter den Banken soweit gewachsen, dass sie sich untereinander nicht mehr unbesorgt Geld leihen. Vielmehr parken sie – trotz mickriger Zinsen – viel Geld bei der EZB. Viele erinnert das an die vorherige Bankenkrise. IWF-Chefin Christine Lagarde hebt mahnend den Finger: Dringend müssten europäische Banken rekapitalisiert werden. Kurz darauf bricht die belgisch-französische Dexia zusammen: Am 10. Oktober wird das Pleitehaus zerschlagen. Ein 90-Milliarden-Euro-Risiko wandert in eine Bad Bank, für die Belgien, Luxemburg und Frankreich geradestehen.
Ende Oktober reagiert die Politik: Sie verpflichtet die Banken zu einem zusätzlichen Risikopuffer, einer Kernkapitalquote von neun Prozent. Demnach brauchen die führenden europäischen Banken gut 106 Milliarden Euro an frischem Kapital. Der Stresstest von Mitte Dezember verlangt noch mehr: 31 Instituten fehlen fast 115 Milliarden Euro. Sechs deutsche Institute benötigen 13,1 Milliarden Euro, allein die Commerzbank rund 5,3 Milliarden.
Weil sich die Finanzakteure weltweit so sehr misstrauen, reagieren die weltweit wichtigsten Notenbanken am 30. November mit einer konzertierten Aktion: Sie pumpen massenhaft Dollar-Liquidität nach Europa und lösen kurzfristig ein Kursfeuerwerk an den Aktienmärkten aus. Die Angst vor einer Bankenkrise will aber nicht verschwinden. In Deutschland wird deshalb der Bankenrettungsfonds Soffin wiederbelebt: Er soll Banken im Notfall stützen und für Vertrauen in den Finanzsektor sorgen. Zwangs-Geldspritzen mit Staatsmitteln soll es aber nicht geben.
Ab, aber auch wieder auf: Wie die Börse Achterbahn fuhr
Der ganze große Börsenknall hat nicht stattgefunden im Euro-Krisenjahr. Zwar gibt es immer wieder heftige Verluste – wie am
18. August, als der Dax zeitweise in den freien Fall gerät und mit fast sechs Prozent das größte Tagesminus seit 2008 einfährt. Doch im Herbst geht es auch wieder deutlich aufwärts – nicht zuletzt, weil sich verunsicherte Anleger aus Staatsanleihen in Aktien flüchten.
Kurz vor Jahresende steht der Dax rund 1300 Punkte schlechter als zu Beginn – eine noch verkraftbare Bilanz für ein Katastrophen-Jahr. Der Ausblick jedoch ist durchwachsen, wie es Marktanalyst Robert Halver auf den Punkt bringt: „Die politische Euro-Krise klebt an den Börsen wie Kaugummi am Schuh und lässt sich nicht abstreifen.“
Rollende Köpfe: Wie Regierungschefs reihenweise ihre Ämter verloren
Für viele Euro-Regierungschefs erwies sich die Krise 2011 als Karriere-Killer: 7 von 17 verloren ihre Ämter. Dabei beginnt das Jahr mit einer guten Nachricht: Estland wird 17. Euroland – die Union begrüßt einen Finanz-Musterschüler. Dann das politische Beben in Irland: Frustrierte Wähler lassen die seit Jahrzehnten regierende Fianna-Fail-Partei des Premiers Brian Cowen abstürzen und heben den Grundschullehrer Enda Kenny auf den Schild.
Ende März wählen die Portugiesen José Sócrates bei Neuwahlen aus dem Amt. Zuvor war dessen Sparpaket durchgefallen. Es übernimmt eine liberal-konservative Regierung unter Pedro Passos Coelho.
In der Slowakei fordert die Opposition den Kopf von Regierungschefin Iveta Radicova – als Preis für ein Ja zur Vergrößerung des Euro-Rettungsschirms EFSF. Radicova räumt am 11. Oktober ihren Platz, der Weg für die EFSF-Ausweitung ist frei.
Der unglückliche Grieche Papandreou wird 2011 zum Gesicht der Krise: Immer neue Sparschnitte verlangt er seinem Volk ab, schafft es aber nicht, die Opposition ins Boot holen. Am 9. November macht er den Weg für einen Neuanfang frei. Es übernimmt der Technokrat Lucas Papademos.
Nach zahllosen Affären und einem beispiellos zähen Kampf um sein Amt kündigt Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi am 9. November seinen Rücktritt an. Auf den Straßen kommt es zu Jubelfeiern. Mit Mario Monti muss von nun an ein Anti-Berlusconi die gefährlich hohen Zinsen für italienische Staatsanleihen bekämpfen und Sparpakete durchpauken – gegen massive Widerstände.
Die spanischen Wähler strafen die sozialistische Regierung Ende November wie erwartet für die Wirtschaftskrise und die verheerende Arbeitslosigkeit ab. Die Konservativen kehren an die Macht zurück. Ministerpräsident José Luis Zapatero war schon nicht mehr angetreten.
Sensationell siegt im Euroland Slowenien ein politischer Senkrechtstarter: Zoran Jankovic, Bürgermeister der Hauptstadt Ljubljana. Der sozialdemokratische Regierungschef Borut Pahor war bei einer Volksabstimmung über Sparmaßnahmen gescheitert.
Proteste: Wie Streiks und Zeltlager weltweit Schlagzeilen machten
Nie zuvor äußerten in der Eurozone so viele Menschen so vehementen Protest: Mit flächendeckenden Streiks und Massendemonstrationen legen gerade die Griechen ihr Land immer wieder lahm. Fluglotsen, Taxifahrer, Beamte – Hunderttausende machen gegen die Sparschnitte mobil, vor allem in Athen kommt es zu heftigen Zusammenstößen.
Aus den USA schwappt schließlich eine neue Protestform herüber: In der „Occupy“-Bewegung schließen sich vor allem junge, linke Protestierende zusammen. „Wir sind die 99 Prozent“ und „Hört uns endlich zu“ steht auf Plakaten. „Occupy“ will die Macht der Banken beschneiden, sie in die Pflicht nehmen, das Sozialsystem verbessern - aber wie? Protestierende harren dies- und jenseits des Atlantiks teils wochenlang vor Börsen und Banken aus. Ende November wird das New Yorker Zeltlager geräumt. (dpa/abendblatt.de)