Vor seinem Rücktritt stellte er fast 90 Minuten die Jahresbilanz vor. Einen Nachfolger gibt es noch nicht.

Berlin. Um 12.24 Uhr zog Hartmut Mehdorn die Konsequenz aus der Datenaffäre. Nachdem der Chef der Deutschen Bahn zunächst knapp eineinhalb Stunden lang vor Journalisten die Bilanzzahlen des Staatskonzerns zelebriert hatte, gab der 66-Jährige bekannt, worauf alle gewartet hatten: Er habe dem Aufsichtsrat die Auflösung seines Arbeitsvertrags angeboten. Als Vorstandschef übernehme er "die Gesamtverantwortung für das, was in der Bahn passiert oder eben nicht geschieht. Und zwar unabhängig davon, ob ich es gewusst habe oder nicht." Er selbst habe sich nichts Unrechtes vorzuwerfen, sagte er selbstbewusst. Doch es gelte zu allererst, diese "schlimmen, ja zerstörerischen Debatten für die Bahn zu beenden".

Mehdorns Abgang war nur noch eine Frage der Zeit, nachdem bekannt geworden war, dass die Deutsche Bahn nicht nur massenhafte Datenabgleiche durchgeführt, sondern standardmäßig E-Mails ihrer Mitarbeiter überprüft hatte und zudem während des Streiks der Lokführer eine Mail der Gewerkschaft GDL nicht weitergeleitet hatte. Als sich alle drei Bahngewerkschaften gegen Mehdorn stellten, kippte offenbar auch die Stimmung im Aufsichtsrat gegen ihn. Da half es nicht, dass sich der Vorstandsvorsitzende regelmäßig darauf berief, nur die Korruption im Konzern bekämpfen zu wollen. Kaum hatte Mehdorn gestern seinen Rücktritt verkündet, wurden bereits Nachfolger ins Gespräch gebracht. Darunter laut "Rheinischer Post" auch Airbus-Chef Thomas Enders, was die Regierung jedoch umgehend dementieren ließ.

Einen Typen wie Hartmut Mehdorn wird es in der deutschen Wirtschaftsszene so schnell nicht wiedergeben: Mehr Zähigkeit, mehr Stehvermögen, mehr Geradlinigkeit sind kaum vorstellbar. In den fast zehn Jahren an der Spitze der Bahn war er so etwas wie der Prügelknabe der Nation, in Beliebtheitsrankings von Managern rangierte er meist am unteren Ende. All dies schien an ihm abzugleiten. Er war nach eigenem Bekunden "ein robustes Kerlchen". Vor allem aber glaubte Mehdorn sich bis zum vorzeitigen Ende seiner Amtszeit auf dem richtigen Weg. Hatte er nicht aus dem trägen, schwer defizitären Staatsbetrieb mit milliardenschweren Investitionen einen der weltweit führenden und hoch profitablen Logistikkonzerne gemacht? Diese Bilanz, die auch von Branchenexperten nicht bestritten wird, gab ihm die nötige Selbstsicherheit: "Ich muss niemandem mehr was beweisen." Dennoch ist es immer mal wieder sehr eng für ihn geworden - und das nicht nur wegen unpünktlicher Züge, entgleister ICEs, Achsenproblemen und manchmal geradezu skandalös unfreundlichen Personals.

Mit den Bundesverkehrsministern, von denen Mehdorn immerhin vier im Amt erlebte, geriet er durch seinen autoritären Führungsstil und seinen Hang zu politisch wenig korrekten Äußerungen nicht selten aneinander. "Diplomat wollte ich nie werden", sagte er selbst über seine Umgangsformen. In den ersten Jahren hielt ihm Kanzler Gerhard Schröder, sein Duzfreund, den Rücken frei. Mehdorns Verhältnis zu Angela Merkel galt zwar als wesentlich weniger herzlich. Dass ihn auch die neue Regierung lange gewähren ließ, lag wohl nicht zuletzt an fehlenden Alternativen: Welche andere Spitzenkraft wollte sich den undankbaren, vergleichsweise moderat bezahlten Job schon antun?

Mindestens ebenso wichtig war aber der Rückhalt, den er fast bis zum Schluss in den Gewerkschaften hatte. Nicht dass Mehdorns Entscheidungen in der Belegschaft immer populär gewesen wären. Doch obwohl er als Sohn eines Fabrikanten geboren wurde, wirkt der einstige Ruderer mit der stämmigen, gedrungenen Figur stets volksnah und hemdsärmelig, keineswegs wie ein typischer Manager.

Glanzpunkt seiner Karriere hätte der Börsengang der Bahn im Herbst 2008 sein sollen. Dass es dazu nicht kam, war nicht Mehdorns Schuld und nicht die des Bundes. Diesmal machte die Finanzmarktkrise die Pläne zunichte - nur wenige Tage vor dem angepeilten Termin musste man die Notbremse ziehen.

Mehdorn hat eine rasante Karriere hinter sich. Der Maschinenbauingenieur stieg nach seinem Studium in der Flugzeugindustrie schnell auf, wurde 1989 Chef von Airbus Deutschland in Hamburg. Schon hier zeigte sich: Geduld gehört nicht zu Mehdorns Kennzeichen. "Zack, zack" muss bei dem Hauptmann der Reserve nach seinen eigenen Worten alles gehen. Als Mehdorn nicht zum Nachfolger von Jürgen Schrempp als Chef der Daimler-Flugzeugsparte gekürt wird, verlässt er nach drei Jahrzehnten die Luftfahrtindustrie und wird Vorstandschef der Heidelberger Druckmaschinen AG. 1999 fragte ihn der damalige Bundeskanzler Schröder, ob er an die Spitze der Bahn will. Mehdorn braucht nur ein paar Stunden Bedenkzeit, dann hat er den Job - den zweitverrücktesten Deutschlands, wie Schröder sagt, gleich nach dem des Kanzlers.

Privat zeigt Mehdorn jedoch Beständigkeit. Seit 1973 ist er mit einer Französin verheiratet und hat mit ihr drei Kinder. In den letzten Wochen bröckelte der Rückhalt für Mehdorn in der Politik zusehends. Immer mehr forderten seinen Rücktritt. Einige waren sogar in seine Pläne eingeweiht. So kündigte der stellvertretende CDU-Vorsitzende Jürgen Rüttgers gestern früh an: "Ich bin zuversichtlich, dass es in den nächsten Stunden zu einer Entscheidung kommen wird."

Das Rücktrittsangebot quittierten viele mit Erleichterung: "Endlich! Das schier unendliche Gezerre um die Verantwortung Hartmut Mehdorns im Bahnüberwachungsskandal hat ein Ende", sagte der Grünen-Verkehrspolitiker Winfried Hermann. "Der Rücktritt war überfällig", so sein SPD-Kollege Christian Carstensen zum Abendblatt. Bundeskanzlerin Angela Merkel dankte dem Bahnchef unterdessen "sehr herzlich" für seine Leistungen: "Er hat das Unternehmen wirtschaftlich saniert. Er hat es zu einem weltoffenen Logistikunternehmen gemacht", sagte die CDU-Politikerin. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) lobte ihn dafür, die Bahn zu einem modernen Dienstleister gemacht zu haben. Auch Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) erklärte: "Für die harte Sanierungsarbeit der letzten Jahre gebührt Herrn Mehdorn nachhaltige Anerkennung." Und Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagte: Das Wirken des Bahnchef zeigte sich nicht nur in den Bilanzen, "sondern auch in der Qualität der Personenbeförderung".

Klar ist: Mehdorn hat seinen Job bis zur letzten Minute mit voller Kraft, viel Energie und Freude erledigt. Sein Rücktritt fiel ihm nicht leicht. Entsprechend gerührt gingen ihm seine letzten offiziellen Worte nur mit äußerst brüchiger Stimme über die Lippen: "Meine fast zehn Jahre bei der Bahn waren eine tolle Zeit. Manchmal ein wenig verrückt. Immer aufregend."