Die Bewohner des kleinen Ortes Thalmässing und der Leiter des Jugendamtes suchen nach einer Erklärung für den Hungertod von Sarah.
Thalmässing. Das Wirtshaus im Erdgeschoss wirbt mit „guten Pizzen im Groß- und Kleinformat“. Sarahs Eltern kehrten gern hier ein. Ihre dreijährige Tochter hatten sie nie dabei. Ganz im Gegensatz zu Halbbruder Dominik (4). Dem kaufte Mama Angela R. (26) in der Bäckerei am Thalmässinger Marktplatz gern Donuts oder Brezen. Nun ist die Wohnung über der „Linde“ verwaist, nur der blaue VW-Bus der Spurensicherung steht noch in der Einfahrt. Die Ermittler suchen nach Hinweisen, warum mitten in Thalmässing ein Kind verhungern musste.
Jeder kennt jeden hier, in dem mittelfränkischen Marktflecken. Auch an den korpulenten Lkw-Fahrer Patrick R. (29) erinnern sich die Leute, auch wenn er unter der Woche meist unterwegs war und sich selbst an den Wochenenden mit seiner Familie nie auf Dorffesten blicken ließ. Dass unter dem Dach des Hauses am Marktplatz 15 noch ein Mädchen wohnte, daran dachten die meisten erst wieder, als am Mittwoch ihr Bild auf den Titelseiten der Zeitungen zu sehen war. Neben der Schlagzeile: „Kind verhungert!“
Am Samstagabend vor einer Woche hatte Patrick R. den Rettungsdienst alarmiert. Der Zustand seiner Tochter Sarah hatte sich in den Stunden zuvor dramatisch verschlechtert. Mit dem Rettungswagen wurde sie ins mehr als 50 Kilometer entfernte Nürnberger Klinikum gebracht. Doch die Ärzte hier konnten nichts mehr für sie tun. „Sie muss die Hölle durchgemacht haben“, ließ sich Kinderarzt Prof. Rolf Behrens zitieren. Am Montag stellten die Ärzte ihren Tod fest. Die Polizei teilte einen Tag später mit: „Das körperlich gesunde Mädchen war an einer Mangel- bzw. Unterernährung verstorben.“
Wie konnte es soweit kommen? Sarahs Eltern haben zur Aufklärung bisher nichts beigetragen. Patrick R. machte nach seiner Festnahme zwar Angaben. „Diese haben aber keinen Aufschluss dazu gebracht, wie es dazu kam“, sagt der Nürnberger Justizsprecher Thomas Koch. Mutter Angela R. liegt nach einer Not-Operation im Koma; der Haftbefehl wegen Totschlags durch Unterlassen kann bis auf weiteres nicht vollstreckt werden,
Hätte Sarahs Tod verhindert werden können? Diese Frage stellt sich Manfred Korth seit einer Woche. Der Leiter des Rother Jugendamtes war für die als problematisch bekannte Familie zuständig, seit sie zum Jahreswechsel 2004/2005 aus dem Nachbarlandkreis Schwabach nach Thalmässing zog. Angela R., die bereits mit 16 zum ersten Mal Mutter wurde, war erneut schwanger.
Obwohl ihre beiden ersten Kinder schon im Heim lebten, wollten die Sozialpädagogen ihr eine Chance geben. Korth: „Wir waren zweimal die Woche für je zwei Stunden dort. Wir dachten, es wäre gut, die Familie zu unterstützen.“ Anderthalb Jahre nach Dominik kam im Mai 2006 Sarah zur Welt. Elf Monate darauf drängten die Eltern auf ein Ende der behördlichen Bevormundung.
Bis November 2008 schauten die Jugendamts-Mitarbeiter nur noch sporadisch vorbei, danach gar nicht mehr. Der Eindruck sei kein schlechter gewesen, so Korth heute: „Alles war sauber und hygienisch. Von Nachbarn kamen keine Hinweise auf eine Gefährdung.“ Aber es gab andere Signale. Sabine Ronge, Leiterin des Regenbogen-Kindergartens, erinnert sich, dass Angela R. in den letzten Monaten stark abmagerte.
Wenn sie früh ihren Sohn Dominik ablieferte, hatte sie keinen Kinderwagen mehr dabei – anders als früher. „Ich bot ihr an, auch ihre Tochter bei uns aufzunehmen“, sagt Sabine Ronge. „Doch sie sagte, die bringe sie bei einer Schwägerin unter, die auch ein Kind habe. Dort fühle Sarah sich wohl.“
Tatsächlich musste das Kleinkind offenbar in einer Kammer von vier Quadratmetern vor sich hin vegetieren. Polizei und Justiz sprechen von einer völlig verwahrlosten Wohnung. Nicole Abzieher, eine Bekannte der Mutter: „Das Kind lag den ganzen Tag im Bett, überall lagen gebrauchte Windeln herum, die Wände waren mit Kot beschmiert.“ Auch einen toten Hasen fanden die Spurensicherer der Kripo.
Jugendamtsleiter Korth kann sich die menschliche Katastrophe nur mit „psychischen Problemen der Mutter“ erklären, die erst in den vergangenen Wochen aufgetreten seien. Ein eigenes Verschulden sieht er nicht. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth prüft dennoch routinemäßig, ob es ein Versäumnis der Behörde gegeben hat.
Über seinen Anwalt meldete sich inzwischen auch Sarahs Vater Patrick R. zu Wort: Ihm tue das ganze unendlich leid. Seine Internet-Seite, auf der er sich als liebevoller Familienvater präsentierte, ließ er inzwischen löschen. Dort schrieb er noch vor kurzem: „Ich habe mit meiner Frau vier hübsche Kinder, auf die ich sehr stolz bin.“ Dass seine Sarah zuletzt nur noch acht Kilo wog, verschwieg er.