Hamburg. Die Hamburger haben das mit Abstand beste Torverhältnis der Liga – weil die Mischung passt und eine Entwicklung stattfand.
Wer im Internet nach der passenden Definition für das Halten der Balance sucht, der stößt auf mitunter interessante Aussagen. Durch die richtigen Trainingsinhalte können Stürze verhindert und die Gefahr von Stolperfallen minimiert werden, heißt es dort. Ob diese Passagen auch HSV-Trainer Steffen Baumgart geläufig sind, ist nicht bekannt. Klar ist nur, dass der 52-Jährige inzwischen die richtige Balance gefunden hat – denn das Gleichgewicht zwischen Defensive und Offensive scheint zu passen.
Früher hätte sich ein Gegner wie Magdeburg vermutlich spätestens ab der Roten Karte für Kapitän Sebastian Schonlau, als inklusive Nachspielzeit noch fast 40 Minuten zu spielen waren, als Stolperfalle erwiesen. Doch mittlerweile ist die Mannschaft gereift und hat Baumgarts Spielidee besser verinnerlicht. Beim 3:1-Heimsieg gegen den FCM kontrollierte der HSV über weite Strecken die Partie und erspielte sich nicht nur drei sehenswerte Tore, sondern auch darüber hinaus mehrere hochkarätige Möglichkeiten.
HSV findet die Balance unter Baumgart
Nach dem Platzverweis verteidigten die Hamburger leidenschaftlich im Kollektiv. Als das Spiel mit dem verwandelten Elfmeter der Gäste zu kippen drohte, rührten die dezimierten Gastgeber so effektiv Beton an, dass Magdeburg nur noch zu einer nennenswerten Torchance kam, als Philipp Hercher die Stabilität der Brust von Daniel Heuer Fernandes überprüfte.
„Wir hatten viele sehr gute Verteidigungsaktionen, sodass der Gegner kaum zu freien Schüssen gekommen ist. Das war mir wichtig“, resümierte Baumgart, für den die Anzahl der Torschüsse sekundär ist. Stattdessen geht es ihm um die Qualität der Chancen – und die hat der HSV in dieser Saison beim Gegner deutlich verringert.
Nach dem Abpfiff jubelte der Trainer so ausgelassen wie selten zuvor. Weil ihn die geschlossene Mannschaftsleistung imponierte. Und weil vermutlich eine Menge Druck von ihm abfiel. „Die Truppe hat ihr Herz auf dem Platz gelassen, alle haben sich unterstützt. Das war in beiden Halbzeiten das Gesicht, wie ich es mir vorstelle“, schwärmte Baumgart.
HSV hat das beste Torverhältnis: die Gründe
Nachdem sich der HSV zu Beginn seiner Amtszeit schwertat beim Erspielen von Torchancen, passte die Balance auch zu Saisonbeginn noch nicht. Nach einer Führung zog sich das Team häufig weit zurück und überließ dem Gegner das Spiel. Gegen Magdeburg musste Baumgart, bedingt durch Schonlaus Roter Karte, zu einem ähnlichen Stilmittel greifen. Allerdings fällt der Mannschaft die Umsetzung mittlerweile leichter als noch vor einigen Monaten.
Der Fußball in der zweiten Halbzeit mag vielleicht nicht jedem Fan gefallen, er ist aber erfolgreich und aufstiegstauglich, auch wenn Baumgart bremst. „Wir befinden uns in der Entwicklung eines Spitzenteams, aber wir sind noch nicht da. Das sieht man an unseren Fehlern“, gibt sich der HSV-Coach gewohnt demütig. Dabei stellt seine Mannschaft die mit Abstand beste Tordifferenz der Liga (+13), ein klarer Indikator für die gefundene Balance. Den zweitbesten Wert stellt Spitzenreiter Fortuna Düsseldorf (+7).
Auffällig ist, dass die Topteams entweder eine gute Abwehr (Düsseldorf, Hannover) oder einen guten Angriff (Karlsruhe, Magdeburg) haben. In beiden Kategorien performt tatsächlich nur eine Mannschaft auf hohem Niveau: der HSV.
HSV hat endlich aufstiegstaugliche Defensive
Insbesondere die kompaktere Defensive hat sich spürbar verbessert. Darauf liegt auch der Fokus in dieser Saison. Gerade einmal neun Gegentore zu diesem Zeitpunkt bedeuten hochgerechnet 34 Gegentreffer am Ende der Spielzeit. Ein Wert, der seit der sechseinhalb Jahre andauernden Zweitligazugehörigkeit des HSV immer für den Aufstieg gereicht hätte. Und der in diesem Zeitraum auch nur zweimal erreicht wurde: 2019/20 von Arminia Bielefeld (30) und 2022/23 vom SV Darmstadt (33).
Doch auch offensiv funktionieren die Abläufe immer besser. Vor dem Heimspiel gegen Magdeburg war das große Thema, wie der HSV ohne seinen noch circa fünf Monate ausfallenden Torjäger Robert Glatzel, der im Schnitt alle 61 Minuten traf, bestehen will. Die Mannschaft gab die passende Antwort mit drei Toren, von denen eines der direkte Glatzel-Vertreter Ransford Königsdörffer erzielte. Mit 22 Treffern stellen die Hamburger den besten Angriff der Liga.
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HSV unter Baumgart nach Kopfbällen stark
Wie der HSV unter Baumgart zu Toren kommen will, ist nach einer holprigen Startphase inzwischen immer klarer zu erkennen. Die Außen sollen flanken und die Stürmer köpfen. Karo einfach à la Steffen Baumgart. Der sprunggewaltige Königsdörffer erzielte gegen Magdeburg bereits seinen dritten Treffer per Kopf. Er steht exemplarisch für die vom Trainer neu eingeführte Spielweise. Acht Kopfballtore hat der Club in dieser Saison bereits erzielt und damit so viele wie kein anderer Zweitligist. Auf Rang zwei folgt Baumgarts Ex-Club 1. FC Köln (vier von 21 Toren) erst mit gehörigem Abstand.
Das stringente Muster ist zwar offensichtlich. Und doch scheint es nur schwer zu verteidigen zu sein für die Gegner. „Wir sollten nichts überbewerten, es ist noch ein langer Weg“, sagt Selke, der auch schon zweimal per Kopf traf. „Aber wir befinden uns auf dem richtigen Weg.“ Ein Satz, der nur noch um einen kleinen Zusatz erweitert werden könnte: dank der richtigen Balance.