Hamburg. Die Freistellung des Sportdirektors lässt tief blicken hinter die Kulissen eines zerstrittenen Clubs. Wie es jetzt weitergeht.

Jonas Boldt hatte am Mittwoch nicht viel zu sagen. „Es ist alles gesagt“, sagte der Sportvorstand des HSV im Vorbeigehen am Trainingsplatz im Volkspark, obwohl er selbst nichts gesagt hatte. Vielsagender waren da schon die 193 Zeichen, die der Club zwei Stunden zuvor um 9.20 Uhr veröffentlichte. „Der HSV hat Michael Mutzel mit sofortiger Wirkung von allen Tätigkeiten freigestellt. Der Vertrag des Sportdirektors, über dessen zukünftige Rolle keine Einigkeit herrschte, endet am 30.6.2023.“ Die wahrscheinlich kürzeste Personalmitteilung in der Geschichte des HSV hätte sogar in die 160-Zeichen-SMS von früher gepasst, wenn man die Leerzeichen weggelassen hätte.

Trotz der Kürze ließ die Verlautbarung tief blicken hinter die Kulissen des Zweitligisten, der am Sonntag (13.30 Uhr) mit dem Auswärtsspiel bei Eintracht Braunschweig in die neue Zweitligasaison startet. Und fast alle Experten von Torsten Mattuschka über Simon Terodde bis hin zu Felix Magath sind sich einig, dass der HSV in dieser Saison der Topfavorit ist.

Warum der HSV Mutzel zum Abschied nicht dankt

Bei den Hamburgern herrscht dagegen allgemeine Uneinigkeit, wie nicht zuletzt die Kommunikation zu Mutzel zeigte. Eigentlich hatte der HSV geplant, dem zuvor bereits von Boldt degradierten Sportdirektor deutlich mehr Dankbarkeit in der Mitteilung auszusprechen für die Arbeit, die der 42-Jährige in den vergangenen drei Jahren für den Club geleistet hatte. Nachdem die feststehende Freistellung aber bereits am Mittwochabend öffentlich bekannt wurde, verzichtete der HSV auf eine ausführlichere Formulierung. Zuvor konnten sich Mutzel und der Club offensichtlich auch nicht über eine gemeinschaftliche Verlautbarung einigen.

Uneinig waren sich beide Parteien zuvor schon über den Auslöser der Freistellung. Boldt hatte Mutzel direkt nach der Saison öffentlich vorgeworfen, sich spätestens nach der 0:1-Niederlage bei Holstein Kiel im April vom Trainerteam um Tim Walter distanziert zu haben. Von Mutzels Seite hieß es dagegen, er sei lediglich seinem Job nachgekommen und habe sportliche und taktische Dinge hinterfragt und kritisch angesprochen. Boldt hatte wiederum beobachtet, dass Mutzel in dieser Phase auffällig oft die Nähe zu Vorstand Thomas Wüstefeld gesucht habe und sich auf dessen Seite ziehen ließ.

So wurde der Sportdirektor, den Boldts Vorgänger Ralf Becker 2019 aus Hoffenheim zum HSV holte, ungewollt zum Spielball im Machtkampf des Vorstandes, der hinter den Kulissen des Clubs noch immer schwelt. Mit der öffentlichen Degradierung Mutzels hatte Boldt insbesondere ein Zeichen gegen Wüstefeld gesendet mit der Botschaft: Der starke Mann im Sport bin ich und kein anderer.

Klagt Mutzel jetzt gegen den HSV?

Mutzel blieb zunächst ruhig und arbeitete im Hintergrund die vorbereiteten Transfers der Neuzugänge ab. Dabei hätte er zu diesem Zeitpunkt bereits juristisch gegen Boldts Maßnahme vorgehen können, ihn von der Mannschaft und dem Trainerteam fernzuhalten. Schließlich sind in Mutzels noch bis Sommer 2023 laufenden Arbeitsvertrag die Aufgabenbereiche eines Sportdirektors verankert. „Er kann dagegen den Klageweg vor dem Arbeitsgericht bestreiten“, sagt Kolja Hein.

Der Fachanwalt für Arbeits- und Sportrecht, der sich vor einem Jahr für das Amt des HSV-Präsidenten bewarb, sieht Mutzel rechtlich klar im Vorteil. „Ferner hat er die Möglichkeit, als Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht einstweiligen Rechtsschutz auf Beschäftigung als Sportdirektor zu erheben. Darauf hat er einen materiellrechtlichen Anspruch.“

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Dazu wird es zwar nicht kommen. Mutzel dürfte sich trotzdem juristischen Rat holen, um zumindest eine lohnende Abfindung zu erwirken. Theoretisch könnte er vor dem Arbeitsgericht sogar eine Entfristungsklage einreichen. „Denn die vertragliche Befristung eines Sportdirektors ist rechtlich unwirksam. Anders als bei Profifußballern, bei denen eine Befristung rechtlich zulässig ist, liegt bei Sportdirektoren gerade kein ,Verschleißtatbestand’ vor. Der Sachgrund der Befristung scheidet somit aus“, sagt Arbeitsrechtler Hein.

Costa folgt auf Mutzel beim HSV

Wichtiger wird Mutzel allerdings sein, dass sein Ruf in der Branche nicht leidet. Boldt hatte dem früheren Bundesligaspieler bereits öffentlich die Führungsqualität rund um eine Mannschaft abgesprochen, gleichzeitig aber auch dessen Qualitäten als Kaderplaner gelobt. Diese Aufgaben wird beim HSV nun vorerst Claus Costa übernehmen. Der Chefscout, der 2019 gemeinsam mit Boldt von Bayer Leverkusen kam, hatte in der Transferplanung ohnehin immer eng mit Mutzel zusammen­gearbeitet und Kontakte zu Beratern gehalten. Costa könnte künftig die Rolle des Sportdirektors ausfüllen.

HSV-Chefscout Claus Costa ist beim HSV für die Kaderplanung verantwortlich.
HSV-Chefscout Claus Costa ist beim HSV für die Kaderplanung verantwortlich. © HA | Roland Magunia

Voraussetzung dafür wäre aber, dass Boldt beim HSV bleibt. Nachdem Aufsichtsratschef Marcell Jansen dem Sportvorstand vor sechs Wochen eine Vertragsverlängerung in Aussicht gestellt hatte, ist bislang noch nichts passiert. Das Kontrollgremium hatte nach der jüngsten Sitzung Ende Juni verkündet, mit der Entscheidung über die Zukunft der zerstrittenen Vorstände Boldt (Vertrag bis 30. Juni 2023) und Wüstefeld (Vertrag bis 31. Dezember 2022) zu warten. „Wir als Aufsichtsrat sind uns einig, dass von allen Seiten noch weitere Fakten zusammengetragen werden müssen, ehe wir die nächsten Schritte einleiten können“, sagte Jansen.

Der Präsident und Kontrollchef hält eine Zukunft mit Boldt und Wüstefeld nach Abendblatt-Informationen weiterhin für vorstellbar. Daran haben auch die Vorwürfe gegen Wüstefeld und dessen Privatfirmen, die das Abendblatt öffentlich gemacht hatte, nichts geändert. Warten will der Aufsichtsrat allerdings noch, bis die beiden Vorstände ihre konkreten Saisonpläne dem Gremium präsentiert haben. Bislang ist das noch nicht passiert.

HSV-Machtkampf: Bleibt Jonas Boldt?

Voraussichtlich im August wird es zu einer weiteren Aufsichtsratssitzung kommen, auf der die Vorstände alle Zahlen für das neue Geschäftsjahr auf den Tisch legen. Erst dann wird auch über die Zukunft von Boldt und Wüstefeld entschieden.

Bis dahin sind beim HSV alle froh, dass am Sonntag endlich wieder Fußball gespielt wird. Zumindest in diesem Punkt herrscht im Volkspark derzeit Einigkeit.