Hamburg. Der 40-Jährige sorgte in der Führung für einen personellen Paukenschlag, dessen Folgen noch gar nicht richtig abzusehen sind.
Jonas Boldt hatte sich bestmöglich vorbereitet. Auf dem Holztisch vor ihm lagen zwei kleinbedruckte DIN-A4-Seiten mit Statistiken, die der Sportvorstand im ausführlichen Pressegespräch am Freitagmittag gerne erwähnen wollte. Punkte, Tordifferenz, Laufleistung und andere Zahlen und Fakten der vergangenen Saison des HSV. Knapp 20 Minuten hielt der 40-Jährige zunächst einen Monolog, in dem er noch mal einen Rückblick auf die vergangene Spielzeit, das Saisonende, die anschließende Aufsichtsratssitzung und die Situation in der sportlichen Führung gab, ehe die Aufnahmegeräte angemacht werden durften und Boldt sich noch eine weitere Dreiviertelstunde lang den Fragen stellte. Und Fragen gab es einige.
Die erste lautete: Wird Sportdirektor Michael Mutzel den Verein verlassen? Die eindeutige Antwort, die es in dieser Form wohl nur beim HSV geben kann: Jein. „Michael funktioniert in einer Führungsrolle um die Mannschaft nicht“, begründete Boldt, „aber er bringt inhaltliche Qualität bei der Bewertung von Spielern mit.“
Die Konsequenz: Mutzel, der einzige Sportdirektor im Profifußball, der nicht mehr Sportdirektor sein soll, darf ab sofort nicht mehr zur Mannschaft und zum Trainerteam, wird aber – vorerst – nicht entlassen. „Es geht nur um den HSV. Wenn er sich in dieser neuen Rolle nicht wohlfühlt, dann werden wir das natürlich noch einmal ändern“, so Boldt.
HSV: Führt der Machtkampf zu einer Trennung von Mutzel?
Die ungewöhnliche Entscheidung gegen Mutzel ist der Höhepunkt – oder je nach Perspektive der Tiefpunkt – im seit Wochen schwelenden Machtkampf beim HSV (das Abendblatt berichtete). Mutzel selbst wollte sich auf Nachfrage des Abendblatts vorerst nicht zu seiner Entmachtung äußern.
Ohnehin gilt es als äußerst unwahrscheinlich, dass der nun zum Vorerst-Kaderplaner degradierte Noch-Sportdirektor tatsächlich länger in dieser Funktion beim HSV bleibt. Laut Boldt will man dem 42-Jährigen nun einige Tage Bedenkzeit geben, ob er trotz allem professionell weiterarbeiten wolle.
Bleibt die Frage: Wie konnte es nur so weit kommen? Dass das professionelle Verhältnis zwischen Boldt und Mutzel schon seit längerer Zeit nachhaltig gestört war, ist im Volkspark schon lange kein Geheimnis mehr. Intern wurde zuletzt immer öfter gegengerechnet, wer eigentlich für welchen Transfer verantwortlich war und wer nicht.
So durfte Mutzel Transfercoups wie die von Mario Vuskovic, Robert Glatzel, Ludovit Reis, Moritz Heyer und vor allem Amadou Onana für sich als Erfolge verbuchen, musste sich allerdings auch Kritik für Flops wie Giorgi Chakvetadze, Marko Johansson oder Xavier Amaechi gefallen lassen.
Warum ein konstruktives Miteinander nicht mehr möglich ist
Boldt wiederum war es, der sich vor allem für Trainer Tim Walter, für Simon Terodde und aktuell auch für eine Vertragsverlängerung von Glatzel belobigen ließ. Er war es aber auch, der den in der Saison 2020/21 gescheiterten Versuch der Säulenspieler mit unter anderem Sven Ulreich forciert hatte.
Aus dem aktuellen Kader war der frühere Bayer-Mann maßgeblich nur noch bei den Verpflichtungen von Tim Leibold und Sonny Kittel beteiligt. Letztendlich war es wie bei vielen Clubs: Sportvorstand und Sportdirektor hatten in sämtlichen Transferplanungen ihre Anteile, ihre Stärken und Schwächen.
Anders als bei den meisten anderen Clubs wurden diese nur ständig gegeneinander aufgerechnet. Ein konstruktives Miteinander war so kaum noch möglich. „Es ist eine Legendenbildung, dass Michael die einen Transfers gemacht und ich die anderen. Michael hatte eine wichtige Rolle, aber am Ende halte ich den Kopf für jeden Transfer hin“, sagte Boldt.
Einen endgültigen Riss in der Zusammenarbeit der beiden gab es, als Mutzel nach dem verlorenen Kiel-Spiel sechs Wochen vor dem Saisonende das Gespräch mit Trainer Walter suchte und Anpassungen im System vorschlug.
Für Mutzel ein normaler Vorgang als Sportdirektor, für Walter (und auch Boldt) ein Vertrauensmissbrauch. „Michael hat seit dem Kiel-Spiel keine Rolle mehr gespielt – und das hat er so entschieden. Es gab kein Vertrauensverhältnis mehr“, sagte Boldt. „Das Verhältnis leidet seit acht Wochen.“
Das wirft Boldt Sportdirektor Mutzel offen vor
Mehr noch: Mutzel wurde vorgeworfen, sich von der Mannschaft distanziert zu haben, bei sportlichen Analysen nicht mehr dabei zu sein und nicht mehr im Mannschaftsbus zu reisen. Schon zu diesem Zeitpunkt schien klar: Boldt oder Mutzel – es kann in bester Highlander-Manier nur einen geben.
Während zunächst alles danach aussah, dass es den Gesamtverantwortlichen nach dem dritten Nicht-Aufstieg unter seiner Führung reißen könnte, drehte sich durch sechs Siege in Serie zum Saisonende das Blatt. Der Aufsichtsrat sprach in der vergangenen Woche überraschend Boldt das Vertrauen aus – und damit war das Schicksal Mutzels besiegelt.
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Dabei war schon der Anfang Mutzels beim HSV ziemlich HSV-mäßig. Ralf Becker holte Mutzel zum 1. April 2019 als neuen Sportdirektor. Doch noch bevor Mutzel offiziell vorgestellt werden konnte, war Vorstand Becker bereits entlassen. Zu diesem Zeitpunkt übrigens auch noch im Amt: Kaderplaner Johannes Spors. Dieser wurde aber zeitnah beurlaubt, nachdem Becker-Nachfolger Boldt als Sportvorstand anheuerte. Und Mutzel? Wurde drei Monate nach seinem ersten Arbeitstag in Hamburg endlich offiziell vorgestellt – und nun, drei Jahre später, in ziemlich einmaliger Form degradiert. Alles Hamburg, oder was?
Das fette Ausrufezeichen vom Freitagmittag sorgte aber zunächst für viele weitere Fragezeichen. Zum Beispiel dieses hier: Wie soll es nun weitergehen? „Ich werde jetzt näher an die Mannschaft rücken“, sagte Boldt. „Ob man das in Zukunft weiter anpasst, muss man sehen.“
Auch der bisherige Chefscout Claus Costa, den Boldt einst aus Leverkusen mitgebracht hatte und der am Freitag ebenfalls Gespräche auf der Geschäftsstelle hatte, gilt als möglicher Mutzel-Nachfolger. „Es hängt ja auch davon ab, was Michael jetzt zu seiner neuen Rolle sagt“, so Boldt.
Boldt sieht HSV auf dem Transfermarkt handlungsfähig
Dem Vorwurf, dass der Club nun mitten in der Transferperiode zur Unzeit handlungsunfähig sei, widersprach der Sportvorstand in der Loge des Volksparkstadions energisch und verwies auf die beiden Transfers, die der HSV am Freitag bekannt gab: Flügelstürmer Filip Bilbija (22) kommt ablösefrei vom Zweitligaabsteiger FC Ingolstadt, und Torhüter Matheo Raab (23) kommt ebenfalls ablösefrei vom Aufsteiger 1. FC Kaiserslautern.
Raab soll Stammtorhüter Daniel Heuer Fernandes Konkurrenz machen, Bilbija ist eine Alternative auf den Flügeln. „Wir haben viele weitere Dinge in der Pipeline, die allerdings auch nicht einfach sein werden, sie umzusetzen“, sagte Boldt, und verwies auf den noch immer fehlenden Budgetplan für den Sport.
Der Finanzplan müsse von Vorstandskollege Thomas Wüstefeld aufgestellt werden. Dieser hatte sich übrigens im Machtkampf klar für einen Verbleib Mutzels ausgesprochen. Auf dem Fußballplatz würde man nach diesem denkwürdigen Freitag wohl sagen: 1:0 für Boldt.