St. Pauli. St. Pauli spielt in einer anderen Liga: Der erste Aufstieg seit 14 Jahren, der erste Platzsturm seit 29. Und ein kollektives Glücksgefühl.
Fußball, das ist wie lebenslänglich. Nach dem ersten Stadionbesuch am Hamburger Millerntor war ich schockverliebt, schnell wurde etwas Ernstes daraus und bald folgte der Treueschwur: „Ich verspreche dir die Treue in guten und in schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit, bis der Tod uns scheidet.“
Da wir um die guten Tage wissen, ertragen wir die schlechten. Und weil wir die schlechten Tage kennen, strahlen die guten so besonders hell.
Der 12. Mai 2024 – ein Tag für die Ewigkeit
Der 12. Mai 2024 wird als ein besonderer Tag in die Beziehung zwischen mir und dem FC St. Pauli eingehen. Ein Tag für die Ewigkeit, ein Sonntag für die Galerie, eine Saison zum Niederknien. Der Aufstieg in die Erste Liga, der erste seit 14 Jahren. Heimlich erhofft, nicht ernsthaft erwartet. Immer ersehnt, stets enttäuscht. Der FC St. Pauli ist zwar „not established since 1910“, aber zumindest in der Zweiten Liga voll etabliert. Übelmeinende sprachen vom „Dino in Klasse 2“.
Der letzte Aufstieg von 2010 lag eine gefühlte Ewigkeit zurück, längst eingewebt in den Mantel der Fußballgeschichte. Was damals in Ekstase begann, endete in einem furchtbaren Kater. Nach 22 Spielen in der Saison 2010/11 hatte der FC St. Pauli nach dem 1:0 im Volkspark gegen den damals noch so großen HSV beeindruckende 28 Punkte auf dem Konto.
Hochgefühl und Tragik liegen beim FC St. Pauli eng beieinander
In der Euphorie rechnete ich an diesem 16. Februar 2011 im Volksparkstadion vor, dass dieser Sieg für den Elftplatzierten praktisch den Klassenerhalt bedeute: „Selbst Tasmania Berlin würde in der Bundesliga die nötigen sieben, acht Punkte aus zwölf Spielen holen.“ Hochmut kommt vor dem Fall: Der Kiezclub holte in der Restsaison noch einen Punkt.
Seitdem rechnen wir alle nicht mehr – nur noch mit dem Schlimmsten. Selbst nach der Pausenführung warnten Unken am Sonntag auf der Gegengeraden vor dem Elversberg-Erlebnis (3:4).
Eine Überdosis aus Endorphinen, Serotonin, Dopamin
Es kam anders. Es wurde groß, ganz groß. Eine Überdosis aus Endorphinen, Serotonin, Dopamin, Noradrenalin, Phenethylamin und Oxytocin. Komplexe Chemie. Oder einfache Fußballarithmetik: 3:1 gegen Osnabrück. Platz 1. Aufstieg.
Mit jeder Minute, die verstrich, kamen Bayern München, Bayer Leverkusen und Borussia Dortmund näher. Irgendwann in Minute 84 kletterten die ersten von der Gegengeraden auf die Zäune, in Minute 86 ging das Tor hinter der Trainerbank auf. Immer mehr Menschen strömten auf das Spielfeld – hatte denn keiner die Abendblatt-Zeile „Aufstieg ja, aber bloß kein Platzsturm“ gelesen, keiner den Stadionsprecher gehört, der schon vor dem Spiel vor diesem massenhaften (Gefühls-)Ausbruch warnte.
Betreten des Rasens verboten? Auf St. Pauli?
Erinnerungen an den 18. Juni 1995 wurden wach: Damals rannten St.-Pauli-Fans in der 87. Minute beim Stande von 5:0 gegen den FC Homburg auf den Platz am Millerntor. Gottlob gab es noch keinen VAR, sondern nur einen gewitzt-flexiblen Schiedsrichter namens Bodo Brandt-Chollé, der seinen Elfmeterpfiff kurzerhand zu einem Schlusspfiff umdeutete. Ein Spielabbruch und ein 0:2 am grünen Tisch wären ein Albtraum, 1995 wie heute. Das weiß doch jeder Fan!
Wissen ist Macht. Aber Emotion ist mächtiger. Betreten des Rasens verboten? Auf St. Pauli?
Manche Fans mussten fast 30 Jahre auf diesen Moment warten
Meine Tochter zerrte mich ins Glück. Gerade weil Fans fast 30 Jahre auf diesen kollektiven Ausnahmezustand warten mussten, haben Kinder ein feineres Gespür für die Größe des Moments. Ein Aufstieg am heimischen Millerntor!
Immer mehr Braun-Weiße strömten auf den sonntäglich-heiligen Rasen, als zöge sie der Mittelkreis magnetisch an. Man soll eigentlich nicht, aber man muss – es – einfach – tun.
Jeder Fan kann rechnen: Mehr als zwei, drei Platzstürme sind im Leben kaum drin. Ein Moment für die Ewigkeit. Augenblick, verweile doch, du bist so schön. Wo können wir als größter Freiluftchor der Welt tausend-Kehlen-laut den alten Gassenhauer „Wer wird deutscher Meister? Ha-Ha-Ha-HSV“ gemeinsam anstimmen oder den Schlager „Ich liebe das Leben“? Wo dürfen wir Spieler, Trainer und Sportchef herzen und auf den Schultern tragen? Wo die Anspannung von 33 Spieltagen und 2970 Minuten Franz-Beckenbauer-gleich auf dem Platz weichen lassen?
Ein süßer Sonntag der Anarchie
Ein süßer Sonntag der Anarchie: Ganz clevere Anhänger hatten sogar Schere und Schraubenzieher im Schuh ins Stadion geschmuggelt, um ein Stück des Grüns, der Trainerbank oder des Torgestänges für Kinderzimmer oder Partykeller mitgehen zu lassen.
Alles neu macht der Mai. Ein frühsommerlicher Nachmittag, an dem wir die Sonnenstrahlen sammeln wie die Maus Frederik aus dem Kinderbuch, ein wohliges Gefühl, an dem wir uns an kalten Tagen wärmen können, in schweren Zeiten erfreuen, von dem wir Kindern und Kindeskindern stolz erzählen werden – mit der eitlen Note: Ich war dabei. Fan ist man nicht für ein Spiel oder eine Saison, echte Fans leiden lebenslänglich.
Viele Fans sind durch ein Tal der Tränen gegangen
Wer so ein FC-St.-Pauli-Anhänger ist – und nicht einer der mitlaufenden Modefans, weil der Totenkopf ein hippes Accessoire, die politische Ausrichtung so aktuell ist und Erfolg viele Opportunisten anzieht – kennt diese dunklen Momente. Wie sang schon Thees Uhlmann:
Manche hängen ihre Fahnen
nach dem erstbesten Wind.
Doch die Liebe beweist sich erst
wenn der Wind zunimmt.
Und Liebe ohne Leiden
hat noch niemand gesehn.
Tausend Tränen tief, das ist auch Hamburger Schule und können wir meisterhaft auf dem Kiez. St. Pauli ist eine Leidenschaft, die Leiden schafft: Zum Beispiel an einem grauen 7. November 2003, einem Tag zum Vergessen. Damals spielte der Kiezclub nach einem Serienabstieg aus Liga Eins in Liga Zwei in Liga Drei drittklassig – und wieder gegen den Abstieg. Selbst gegen den damaligen Tabellenletzten VfR Neumünster reichte es am nicht ausverkauften Millerntor nur zu einem 1:1, weil der Spielertrainer der Holsteiner persönlich einnetzte.
Tragik ist wie Liebe
Ohne Happy End
Und eines ist wirklich sicher
Dass die Tragik St. Pauli kennt
Der letzte Bundesliga-Aufstieg endete in einem Desaster
Oder der 7. Mai 2011: Da mussten wir Fans nicht nur Abschied vom Erfolgstrainer Holger Stanislawski nehmen, sondern auch von der Bundesliga und alle Hoffnung fahren lassen: 1:8 gegen Bayern München. Zu Hause. Am Millerntor. Versohlt wie ein Dorfclub im DFB-Pokal. Schlimm.
Aber keine Horrorshow ohne Heldenepos. Wie eben der 6. Februar 2002, als der Tabellen-Achtzehnte und sichere Absteiger FC St. Pauli ausgerechnet den FC Bayern am Millerntor mit 2:1 besiegte; eine Sensation, für die wir den Fußball lieben. Der Augenblick, in dem plötzlich alles möglich wird. Und den später mehr Menschen auf dem „Weltpokalsieger-Besieger“-T-Shirt trugen, als das Spiel überhaupt Zuschauer hatte.
Die letzte magische Nacht am Millerntor liegt erst 16 Monate zurück
Oder wie der 21. Dezember 2005, als die in die niederen Gefilde der Regionalliga abgerutschten Kiezkicker den Bundesligisten Hertha BSC Berlin im DFB-Pokal nach einem 0:2-Rückstand mit 4:3 nach Verlängerung niederrangen.
Oder der 18. Januar 2022, als die Champions-Ligisten aus Dortmund auf dem Kiez mit 1:2 im DFB-Achtelfinale untergingen. Eine magische Nacht, als Klein und Groß verschwammen, Arm und Reich kurz keine Rolle spielte, hochbegabt gegen hoch motiviert unterlag. Fußball ist ein demokratischer Sport – der den Scheichs, Oligarchen und Investmentbankern eben immer noch trotzt. Zumindest manchmal.
In 114 Jahren keine Meisterschaft gewonnen – und keinen Pokal
Der FC St. Pauli hat in seinen 114 Jahren keine Meisterschaft geholt, nie den Pokal gewonnen, niemals international gespielt. Unsere kleinen Erfolge sind die großen Triumphe des Alltags, die Sensationen für zwischendurch zum Mitnehmen. Allein dafür – das wissen Fans – lohnten die Mühen der Ebene, die fürchterlichen Jahre im Fußball-Souterrain, die Abstiege, die Packungen, die Gegentore in letzter Minute, samstägliche Tränen, Trotteligkeiten, Tragödien, das Gerumpel und das Kick-and-Rush. Den Hohn und den Spott der Freunde, Partner und Kollegen gab’s gratis obendrauf.
Jetzt gratulieren sie alle, klopfen die braun-weiße Schulter, kommentieren wohlwollend die Selfies vom Platzsturm, schauen mit Respekt auf den Underdog vom Kiez, der dem einstigen Europapokalsieger der Landesmeister aus Bahrenfeld längst die Show gestohlen hat.
Mehr zum Aufstieg des FC St. Pauli:
- Leitartikel: St. Paulis Aufstieg ist die Konsequenz unbeirrten Handelns
- Moin, Bundesliga: Die Aufstiegsstory des FC St. Pauli
- FC St. Pauli: Warum Smith seinen Trainer beschimpfte
Aber das Fußballglück ist ein flüchtiges, der Fußballgott ein schwankender Geselle. In meinem Schrank lehren noch alte T-Shirts Demut, in Größen, die ich seit Jahren nicht mehr trage und mit Slogans, die ich nur noch dunkel erinnere: „St. Pauli 1. Liga“ von 2001. Oder: „St. Pauli? Ich möchte nicht darüber reden“. Nur zwei Jahre später – 2003. Aufstieg und Absturz, Euphorie und Ernüchterung sind beim magischen FC wie Ernie und Bert oder Yin und Yang.
Wir alle wissen: Morgen kann die Welt schon ganz anders aussehen. Aber das Heute, das kann uns keiner mehr nehmen.
Eben gute wie schlechte Tage. Das ist lebenslänglich. Wie meine Dauerkarte.