Hamburg. Mit dem 2:1 gegen Dortmund gelingt St. Pauli die größte Sensation seit 20 Jahren. Der stellvertretende Abendblatt-Chef war live dabei.

Seit gestern weiß ich, dass man nach zwei alkoholfreien Bieren trunken sein kann – allerdings nicht trunken vom Alkohol, sondern trunken vor Glück.

Die Zutaten für den kollektiven Ausnahmezustand sind schnell erklärt: Eine Leidenschaft, die ausnahmsweise keine Leiden schafft, sondern ein ekstatisches Hochgefühl, eine Teamleistung, in der die Chemie stimmt aus Endorphinen, Serotonin, Dopamin, Noradrenalin, Phenethylamin und Oxytocin. Oder einfach das Glück in Zahlen ausgedrückt: 2:1.

Die Sensation, für die man den Fußball liebt. Für den Moment, in dem plötzlich alles möglich wird, wenn auf dem Rasen die Klassenunterschiede verwischen, Arm und Reich verschwimmt und Kategorien wie Groß und Klein zerfließen. Fußball ist ein demokratischer Sport – und manchmal verdammt anarchisch.

Und so verwandelte sich ein ganz normaler Dienstagabend in eine Nacht für die Ewigkeit, ein Lagerfeuererlebnis, auf dem bei 5 Grad über Null der Rasen brennt; ein Abend, an dem man sich noch an kalten Tagen wärmen kann, in schweren Zeiten erfreuen, von dem man Kindern und Kindeskindern stolz erzählen wird – mit der eitlen Note: Ich war dabei. Fan ist man nicht für ein Spiel oder eine Saison, echte Fans leiden lebenslänglich. Deshalb habe ich mir 2005 die lebenslange Dauerkarte gegönnt.

FC St. Pauli und die Triumphe des Alltags

Der FC St. Pauli hat in seinen einhundertelfeinhalb Jahren keine Meisterschaften geholt, nie den Pokal gewonnen, niemals international gespielt. Unsere kleinen Erfolge sind die großen Triumphe des Alltags. So wie der 6. Februar 2002, als der Tabellenachtzehnte und sichere Absteiger FC St. Pauli ausgerechnet den FC Bayern am Millerntor mit 2:1 besiegte; wie der 21. Dezember 2005, als die in die niederen Gefilde der Regionalliga abgerutschten Kiezkicker den Bundesligisten Hertha BSC Berlin im DFB-Pokal nach einem 0:2-Rückstand mit 4:3 nach Verlängerung niederrangen.

Oder wie der 25. Januar 2006, als im selben Wettbewerb das damalige Spitzenteam Werder Bremen mit 3:1 an die Weser zurückgeschickt wurde; oder wie der 26. Mai 2000 mit der Rettung in letzter Minute – als das 1:1 durch Marcus Marin gegen RW Oberhausen den FC St. Pauli dem Teufel noch von der Schippe schlug und den Abstieg in Liga 3 verhinderte.

St. Paulis Fans wurden des Glücks beraubt

Dieser 19. Januar 2022 begann als stinknormaler Tag und endete in einer magischen Nacht. Allein dafür – das wissen Fans – lohnen die Mühen der Ebene, die schrecklichen Jahre verloren in Liga 3, die Abstiege, Niederlagenserien, die Gegentore in letzter Minute, die samstäglichen Tränen und Tragödien, das Gerumpel und das Kick-and-Rush-Gekicke. Hohn und Spott der Freunde, Partner und Kollegen gab’s gratis obendrauf.

Doch die sind plötzlich voll des Respekts, ja der Ehrfurcht – nicht nur vor der Mannschaft und dem Verein, sondern vor den 2000 glücklichen Fans, die Zeuge des Sieges werden durften. Dabei hätte dieses Spiel 30.000, ach was 100.000 Fans verdient.

Corona, mit Verlaub, ist ein Arschloch. Das Virus hat viele treue Anhänger diesen Abend des Glücks beraubt – und die Holsten-Brauerei viele Hektoliter Umsatz gekostet, es hat ein großes Fest auf dem Kiez zu einer kleinen intimen Feier geschrumpft.

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    Die Stimmen hinter Masken heiser gesungen

    Es war ein Fußballabend mit Vollgas und angezogener Handbremse zugleich – während die Elf auf dem Platz alles und noch mehr gab, wussten die Fans um die besondere Situation in diesen Corona-Tagen. So weit es uns möglich war, blieben wir auf Abstand, sangen uns die Stimmen heiser hinter Masken, die feucht und feuchter wurden, nippten an unserem alkoholfreien Bier, um zwischendurch schnell Luft und Sauerstoff zu holen. Wir riefen, skandierten, fluchten, stöhnten, jubilierten. Unser Blick schweifte vom Spielfeld zur Stadionuhr, wo die Sekunden in Zeitlupe zu tröpfeln schienen und immer wieder auch aufs Handy.

    Auf dem Platz ganz großes Theater, aber unsere Zeit leidet an ADHS: Heutzutage muss sich auch der Fan inszenieren, der besondere Moment muss nicht tief erlebt, sondern vor allem geteilt werden. Die Halbzeit wurde zur Handyzeit: „Jetzt noch 45 Minuten Hoffen, Bangen, Beten!“, schrieb ich meinem Sohn. Wer den Fußball liebt, weiß, wie gehässig er sein kann und was für ein unsicherer Kantonist der Fußballgott ist.

    Der Neid der Fans: „Bist Du etwa im Stadion?“

    Doch die größte Gemeinheit bleibt Corona. Das Virus verwandelte das Millerntor in eine Welt der Widersprüche: Das Stadion galt offiziell als ausverkauft, binnen weniger Minuten waren alle 2000 verfügbaren und erlaubten Karten vergriffen, und zugleich blieben Gegengerade, Süd- und Nordkurve fast menschenleer. Ein einziger Ordner saß einsam dort, wo sonst die Ultras tanzen.

    Fußball ist nichts ohne seine Fans.

    Aber Fans hat der FC St. Pauli in dieser Nacht zahllose gewonnen – im Minutentakt meldeten sich alte Freunde, schickten ein Bild von ihrem Fernseher aus dem heimischen Wohnzimmer und fragten neidisch: „Bist Du etwa im Stadion?“ Der Kanzleramtsminister und Gegengeradegänger Wolfgang Schmidt schickte per SMS sieben Buchstaben und vier Ausrufezeichen: „Wie geil!!!!“.

    In den sozialen Netzwerken wurde plötzlich nicht Hass und Hetze, sondern Glück und Glückseligkeit geteilt, rührende Geschichten machten später die Runde wie die von dem Rollstuhlfahrer in der U-Bahn, der das Trikot von Torhüter Dennis Smarsch geschenkt bekommen hat: „Er hat noch immer vor Freude geweint!“

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      St. Paulis Marketingcoup mit dem Pokaltrikot

      So viel ist jetzt schon sicher, das graue Pokaltrikot dürfte der Renner der Saison werden. Es steht für das, was den Club ausmacht und eben mehr als eine Marketingmasche ist: Da kein Hersteller gefunden wurde, der Trikots nachhaltig, transparent und fair herzustellen vermochte, hat der FC St. Pauli den Job kurzerhand selbst übernommen. Auf den Pokaltrikot leuchtet das Vereinswappen des Kiezclubs als Bekenntnis in Regenbogenfarben nach dem Motto „Gerade machen für Vielfalt und gegen Diskriminierung.“

      Wahrscheinlich werden die cleveren Marketingstrategen aber auch ein ­T-Shirt wie einstmals den „Weltpokalsiegerbesieger“ aus dem Hut zaubern, das sich 2002 binnen drei Monaten mehr als 25.000 Mal verkaufte. „Pokalsiegerbesieger“ passt perfekt in diese Kollektion.

      Die ganz große Stadionparty blieb aus

      Die Mannschaft auf dem Platz zeigte, dass beim FC St. Pauli aber eben auch Fußball gespielt wird – und was für einer. Plötzlich kann die Mannschaft nicht nur kämpfen, kratzen und beißen, sondern auch passen, tricksen, zaubern. Trotzdem kam der Abpfiff für uns 2000 Fans einer Erlösung gleich, die Sensation nach ewigen 93 Minuten perfekt, der FC St. Pauli eine Runde weiter im Viertelfinale. Das Wunder geht weiter.

      Auch wenn am Dienstag, anders als vor 20 Jahren, die Feier kürzer und leiser ausfiel: Der Katja-Ebstein-Schlager „Wunder gibt es immer wieder – heute oder morgen werden sie geschehen“ blieb aus wie die Bierdusche und die ganz große Stadionparty. Überraschend schnell verließen wir das Stadion. Auch die Kneipen auf dem Kiez lagen seltsam leer in der Nacht. Nach dem Spiel ein schnelles Bier hier, ein Selfie da, und ein paar Raketen stiegen in den Hamburger Nachthimmel, dann hatte uns die Pandemie wieder.

      Vorfreude auf die nächste magische Nacht

      Heute morgen fragte der Club via Twitter: „Na, seid Ihr heute auch mit einem schönen Lächeln aufgestanden?“ Ja, und mit einem Ohrwurm im Gehörgang, dem Song von Bela B. und Fettes Brot: „Ich hör’ sie alle schreien: Macht es noch mal! Für unseren Verein, holt den Pokal, Mensch macht das Ding jetzt rein, wie ist egal!“. Der Titel: „Fußball ist immer noch wichtig“.

      Vielleicht ist Fußball in diesen Zeiten sogar noch wichtiger. Er ist Halt, Stütze, Hoffnungsspender – und ganz einfach großes Glück. Vielleicht wartet die nächste magische Nacht auf die Fans schon am Freitag – beim Derby im Volkspark.

      Die Statistik

      • FC St. Pauli: Smarsch – Ohlsson (74. Zander), Medic, Lawrence, Paqarada – Smith, Becker, Hartel, Irvine – Burgstaller (90. Makienok), Amenyido (75. Dittgen).
      • Dortmund: Kobel – Meunier, Akanji (76. Zagadou), Hummels, Guerreiro – Witsel (90. Moukoko), Brandt, Bellingham, Reus, T. Hazard (65. Malen) – Haaland.
      • Tore: 1:0 Amenyido (4.), 2:0 Witsel (40. Eigentor), 2:1 Haaland (58., Handelfmeter nach Videobeweis)
      • Zuschauer: 2000 (ausverkauft)