Hamburg. Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Nichtaufstieg des HSV? Manche Standortnachteile von St. Pauli bleiben. Eine Analyse.
Wie sehr sportlicher Erfolg das Interesse an einem Fußballverein beeinflussen kann, war am Freitag im Hamburger Millerntor-Stadion zu sehen. Als Fabian Hürzeler um 8.45 Uhr den Medienraum des FC St. Pauli betrat, warteten bereits 23 Medienvertreter vor fünf aufgebauten Kameras auf die Möglichkeit, dem Cheftrainer des Zweitliga-Tabellenführers eine Frage zu stellen. „Ich brauche das nicht, aber freue mich über die Anerkennung für meine Mannschaft, als deren Dienstleister ich an dieser Stelle fungiere“, sagte Hürzeler.
Rund fünf Stunden später fand die gleiche, zumeist unspektakuläre Frage-Antwort-Runde auch im Volkspark statt. Doch als HSV-Trainer Steffen Baumgart auf dem Pressepodium Platz nahm, hatten sich lediglich zwölf Journalisten, ausgestattet mit sieben Kameras, vor ihm platziert. Hat St. Pauli den größeren, aktuell aber nur viertplatzierten HSV etwa nicht nur sportlich, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung bereits überholt?
HSV und St. Pauli: Wachablösung in Hamburg?
Natürlich reicht der Vergleich von zwei Pressekonferenzen, deren Mehrwert häufig überschaubar ist, nicht aus, um diese Frage zu beantworten. Zumal der HSV, der für den Aufstieg auf die Patzer der Konkurrenz angewiesen ist, den Stadtrivalen bei den Zugriffszahlen dieser Gesprächsrunden auf YouTube um ein Vielfaches übertrumpft.
Und dennoch dienen solche Beobachtungen als kleiner Indikator, welche Folgen ein bevorstehender Aufstieg des FC St. Pauli haben könnte. Kann es von der wirtschaftlichen Bedeutung sowie der Wahrnehmung in der Stadt zur Wachablösung kommen, wenn der Kiezclub plötzlich in der Bundesliga spielt und der HSV ein siebtes Jahr in Folge in der Zweiten Liga antreten sollte?
Um dieser Fragestellung nachzugehen, hat das Abendblatt mit Experten aus der Wirtschaft, dem Marketing, Tourismus sowie Politikern und Medienschaffenden gesprochen. Herausgekommen sind widersprüchliche Antworten, die untermauern, dass es nicht nur eine Sichtweise auf dieses komplexe Thema gibt.
HSV mit der besten TV-Quote
Nüchtern betrachtet stößt man bei einem Vergleich der Stadtrivalen auf Kennziffern, die faktisch belegen, dass der HSV auch in der nächsten Saison ligaunabhängig der größere Verein in Hamburg bleiben wird. Der Club hat mehr Mitglieder als St. Pauli (110.000 zu 40.000), mehr Fanclubs (mehr als 1800 zu mehr als 400), das größere Stadion (57.000 zu 29.500) und natürlich mehr Titel gewonnen.
Darüber hinaus ist der HSV auch vom Interesse her die Nummer eins, wie eine Auswertung sämtlicher Mediadaten abseits der Pressekonferenzen ergeben hat. Beim TV-Rechteinhaber Sky sorgen die HSV-Spiele für eine im Schnitt um 20 Prozent höhere Einschaltquote als die Partien des FC St. Pauli.
Auf der Liste der reichweitenstärksten Zweitligaspiele belegt der HSV die Plätze eins und zwei mit den siegreichen Duellen zur Saisoneröffnung gegen den FC Schalke 04 (756.000 TV-Zuschauer) sowie am dritten Spieltag gegen Hertha BSC (689.000). Auf Platz drei folgt schon St. Pauli mit 567.000 Zuschauern beim Auswärtsspiel in Berlin.
HSV knackte bei Sport1 zweimal Millionenmarke
Ähnlich sieht das Verhältnis beim TV-Sender Sport1 aus, der die Topspiele am Sonnabend um 20.30 Uhr überträgt. Durchschnittlich 630.000 Zuschauer schalten ein, wenn der HSV spielt, bei St. Pauli sind es rund 500.000. An der Spitze knackte der HSV auswärts in Kaiserslautern (1,18 Millionen) und Berlin (1,09 Millionen) sogar zweimal die Millionenmarke. Ein Quotenerfolg, den der Stadtrivale vom Kiez bislang noch nicht erreicht hat.
Das größere Interesse am HSV spiegelt sich auch im Internet wider. Wie der NDR mitteilte, wurden die Berichte der jüngsten fünf HSV-Spiele mehr als doppelt so häufig gelesen wie die des FC St. Pauli. Bei abendblatt.de beträgt das Verhältnis sogar 4:1 – ähnlich sieht es auch bei anderen Hamburger Medien aus.
HSV macht durch Konzerte Millionen
Auch infrastrukturell wird der HSV seine Vormachtstellung vorerst nicht verlieren, wie mehrere Faktoren belegen. Da wäre zum einen der Standortvorteil, dass im Volksparkstadion lukrative Konzerte veranstaltet werden dürfen. Durch die Auftritte von Metallica, Beyoncé, The Weeknd und Bruce Springsteen sowie der Ausrichtung des Heimspiels des Football-Teams der Hamburg Sea Devils gegen Düsseldorf nahm der HSV in der Sommerpause 2023 rund 1,2 Millionen Euro ein.
Jeder dieser Veranstaltungen sorgte beim Fußballclub für einen Gewinn von rund 200.000 Euro. In diesem Sommer stehen bislang die Konzerte von „RBLX Michael Jackson“ (1. Juli) sowie zweimal Taylor Swift (23. und 24. Juli) an.
Warum St. Pauli keine Konzerte veranstalten darf
Von dieser Einnahmequelle, die der HSV-Vorstand perspektivisch erweitern will, kann St. Pauli hingegen nur träumen. Die Verantwortlichen des Kiezclubs schauen teilweise zähneknirschend in Richtung Volkspark, denn am Millerntor sind solche Veranstaltungen wegen des Lärmschutzes der Anwohner verboten.
„Ein Konzert-/Veranstaltungsbetrieb im Millerntor-Stadion wurde nicht beantragt. Das Stadion ist ausdrücklich als reines Sportstadion genehmigt worden“, sagt die Pressesprecherin des Bezirksamts Mitte, Elsa Scholz. „Dadurch liegt auch nur für den Sportbetrieb ein Lärmschutznachweis nach der Sportanlagenlärmschutzverordnung vor. Für den Betrieb als Sportanlage gelten andere Maßgaben als für eine Konzert-/Veranstaltungsfläche.“
Die Bezirkssprecherin verweist darauf, dass eine „Überdachung des Stadions“ für eine Genehmigung von Konzerten sorgen könnte. Entsprechende Umbaupläne sind bei St. Pauli allerdings nicht geplant. Stattdessen versucht der Verein bislang vergeblich, das Bezirksamt kommunikativ zum Umdenken zu bringen. „Wir sind mit dem FC St. Pauli dazu immer wieder in Gesprächen, Konzerte werden wir im Millerntor-Stadion aber auch in Zukunft nicht genehmigen können, jedenfalls nicht regelmäßig“, sagt Elsa Scholz.
Hamburger Politik: St. Pauli sieht sich benachteiligt
Es ist nicht das einzige Stadionthema, bei dem sich St. Pauli benachteiligt fühlt. Fast vier Jahre nach dem millionenschweren Stadiondeal des HSV mit der Hansestadt wittern Vereinsvertreter des Rivalen noch immer eine Ungleichbehandlung.
Zur Erinnerung: Im September 2020 hatte die Stadt dem HSV das Stadionsgrundstück im Rahmen einer Erbpacht für 23,5 Millionen Euro abgekauft. Von dieser nicht zweckgebundenen Summe sollte der Club seine Arena für die EM in diesem Sommer modernisieren, doch das Geld wurde, wie berichtet, für das operative Geschäft verwendet. Obwohl die Millionen nicht geschenkt waren und der HSV der Stadt bis 2087 mehr als 28 Millionen Euro zurückzahlt, sorgt der Vertrag noch heute für Verärgerung bei St. Pauli.
Hinter vorgehaltener Hand lautet der Vorwurf, die Hamburger Politik bevorzuge den HSV in ihren Entscheidungen. Eine Anschuldigung, die bei Vertretern der Stadt Verwunderung auslöst. Zum einen bemängelt die Stadt den faktisch hinkenden Vergleich, da St. Pauli das Grundstück des Millerntor-Stadions gar nicht gehört, ein ähnlicher Deal mit dem Kiezclub also gar nicht möglich wäre. Zum anderen beteuern verantwortliche Politiker, sich für die Belange beider Clubs gleichermaßen einzusetzen.
Wie sich Hamburg auch für St. Pauli einsetzt
Ganz konkret arbeite die Politik aktuell daran, den Ausbau des Nachwuchsleistungszentrums (NLZ) an der Kollaustraße zu realisieren. Ein Projekt, das St. Pauli umsetzen muss, um die Auflagen der Deutschen Fußball-Liga (DFL) zu erfüllen. Bei der Konzeption und Anberaumung des Plans, in Niendorf die bisherigen drei auf sieben Trainingsplätze zu erweitern, halfen Vertreter der Politik – vor allem die SPD im Bezirk Eimsbüttel machte sich stark dafür.
Zwar gibt es nach wie vor Bedenken von Anwohnern und der Grünen-Fraktion insbesondere wegen des Hochwasserschutzes, weil St. Pauli eine als Überschwemmungsgebiet ausgewiesene Fläche bebauen würde. Doch alle Seiten sind immerhin im ständigen Austausch darüber.
Vor allem ein umfangreiches Gutachten des Vereins scheint die Wogen zu glätten. Aus diesem geht hervor, dass der Hochwasserschutz durch die Planungen sogar verstärkt würde. „Dieses Gutachten hat unsere Bedenken geschmälert“, sagte Grünen-Fraktionschef Ali Mir Agha dem Abendblatt im Oktober.
Sportstaatsrat kontert St. Paulis Vorwürfe
Auf die Frage, ob der HSV und der FC St. Pauli von der Politik gleichbehandelt werden, antwortet Sportstaatsrat Christoph Holstein (SPD) daher mit einem „klaren Ja“. „Wir haben großes Interesse an einer guten Entwicklung der Hamburger Profi-Vereine, nicht nur im Fußball“, sagt er. „Deshalb engagieren wir uns seit Längerem im zulässige Maße auch für sie. Keiner hat Grund, sich zu beklagen.“
Der politische Einfluss wäre damit geklärt. Bleibt die Frage, welchen wirtschaftlichen Effekt ein Aufstieg des FC St. Pauli für die bislang so klare Rollenverteilung in der Stadt hätte. „Beide Vereine haben aufgrund der schon jetzt hohen Stadionauslastung kaum noch wirtschaftliche Potenziale bei der Anzahl der Stadionbesucher und Gästefans“, sagt Michael Otremba, Geschäftsführer von Hamburg Tourismus.
Es lasse sich zwar nicht genau beziffern, wie viel Geld ein einzelner Gästefan in Hamburg ausgebe. Doch die Gästeblöcke in beiden Hamburger Stadien sind eben schon jetzt in der Zweiten Liga nahezu immer ausverkauft. „Durch einen Aufstieg von St. Pauli würden sich die wirtschaftlichen Effekte für die Stadt in Grenzen halten, da wir kaum mehr Gästefans erwarten können, die Erlöse für die Gastronomie, Hotellerie oder den ÖPNV bringen könnten“, ergänzt Otremba.
Führt die Wachablösung über den Europapokal?
Ein ähnliches Bild zeichnete sich auch schon 2018 beim Abstieg des HSV, als die negativen wirtschaftlichen Effekte für die Stadt Hamburg „eher überschaubar“ waren, „weil der HSV auch in der Zweiten Liga viele Fans begeistern“ könne. Doch diese Beobachtung muss eben nicht von ewiger Dauer sein.
Zu einer Wachablösung in der Stadt, darin sind sich viele Experten einig, würde es wenn überhaupt erst dann kommen, wenn St. Pauli international spielen und der HSV weiterhin am Saisonziel Aufstieg scheitern sollte.
„Ein solcher Erfolg hätte positive Auswirkungen auf die Wahrnehmung Hamburgs. Zusätzliche Spiele, gerade in der Woche, wenn die Hotels und Restaurants noch nicht voll ausgelastet sind, wären eine echte Bereicherung für die Stadt aus wirtschaftlicher Sicht“, prognostiziert Otremba, der eine Entwicklung beschreibt, die in Berlin bereits stattgefunden hat.
Droht dem HSV das Berliner Schicksal?
Dort hat Champions-League-Teilnehmer Union Berlin den bisherigen Goliat Hertha BSC nicht nur sportlich überholt. Seit 2022 zählen die Köpenicker (66.100) mehr Mitglieder als der Club aus Charlottenburg (rund 50.000).
Als Zeichen der Wachablösung dienen auch die Wechsel der prominenten Spieler Lucas Tousart und Alexander Schwolow, die das blaue Hertha- in ein rotes Union-Trikot tauschten. In Berlin war über die Jahre ein schleichender Prozess des Machtwechsels zu beobachten, der 2019 mit dem Aufstieg Unions in die Bundesliga begann.
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Hamburg profitiert vom Aufstieg St. Paulis
In Hamburg könnte es für die jeweilige Marke der beiden Clubs also ebenfalls Auswirkungen haben, sollte nur St. Pauli aufsteigen. „Natürlich wäre ein Bundesligist für die Wahrnehmung der Stadt von Vorteil“, sagt Otremba mit Blick auf die Vermarktung.
Eine These, die Malte Heyne, Hauptgeschäftsführer der Handelskammer Hamburg ausführt: „Ein entscheidender Effekt wäre in der internationalen Vermarktung sichtbar. Im Ausland wird die Bundesliga stärker wahrgenommen als die Zweite Liga. Duelle gegen den FC Bayern München oder Borussia Dortmund hätten natürlich eine andere Strahlkraft als Zweitligaspiele und würden für einen positiven Imageeffekt der Stadt sorgen“, sagt der Wirtschaftsexperte.
HSV hat lukrativere Infrastruktur als St. Pauli
Durch solche Topspiele könnte St. Pauli zudem seinen Rückstand bei einem weiteren infrastrukturellen Nachteil aufholen. „Ein Effekt dürfte bei der Nachfrage nach Hospitality-Plätzen zu beobachten sein, wenn der Aufsteiger St. Pauli attraktive Gegner wie den FC Bayern oder den BVB am Millerntor begrüßt“, sagt Marco Klewenhagen, Chef von Europas größter Sportbusinessplattform Spobis.
Dank seiner größeren Kapazität bei den Logen (50 zu 39) und Business Seats (3620 zu 2317) erwirtschaftet der HSV momentan höhere Umsätze. In der Bundesliga würde St. Pauli jedoch die Preise erhöhen und könnte Boden gegenüber dem HSV gutmachen. Darüber hinaus würden die Sponsoreneinnahmen bei einem Aufstieg laut Spobis um rund 20 Prozent steigen.
Doch zunächst einmal steigt an diesem Spieltag wieder das Interesse am FC St. Pauli, der die SV Elversberg am Millerntor empfängt. Und wer sieht, mit welchem Charme und Witz Hürzeler die unter seine Ägide umfangreichen Pressekonferenzen abhält, kommt zur Einschätzung, dass der 31-Jährige die Aufmerksamkeit in Wahrheit sehr genießt.