Hamburg. Präsident Göttlich und Sportchef Bornemann wollten den Heldenkult abschaffen. Doch das Duo und Trainer Hürzeler kreierten: neue Helden.

Um 15.22 Uhr am Sonntagnachmittag war es vollbracht. Der FC St. Pauli hat es tatsächlich geschafft. Der Platz wurde gestürmt, Spieler, Verantwortliche und Fans feierten – und der ganze Kiez explodierte. Moin, Bundesliga, lieber Kiezclub!

„Ja, Moin erst mal.“ Diese ersten Worte wählte auch Fabian Hürzeler, als der ein klein wenig schüchtern, zurückhaltend und angepasst wirkende Münchener am 29. Dezember 2022 erstmalig als Cheftrainer des FC St. Pauli auf dem Pressepodium des Millerntor-Stadions sitzt.

Auch am 12. Mai 2024 wirkt Hürzeler angepasst – und doch ganz anders. Aufstiegsshirt, bierselig, Gewinnerlächeln – was eben so dazugehört an einem der größten Tage der Vereinsgeschichte. Mit einem 3:1 (1:0) gegen den VfL Osnabrück machen die Hamburger die Rückkehr in die Bundesliga nach einer von Dominanz geprägten Saison endgültig klar. Und Hürzeler? Für den ist damit nur ein Zwischenziel erreicht auf einer Reise, die am 29. Dezember 2022 begonnen hatte. Aber irgendwie auch schon viel früher.

Präsident Göttlich wollte St. Pauli in den Top 25 etablieren

Gute acht Jahre zuvor hatte Oke Göttlich erst mal Moin als neuer Präsident des FC St. Pauli gesagt. Angetreten war der damals noch ehrenamtlich agierende Vereinsboss unter anderem mit dem Ziel, den Club dauerhaft unter den Top 25 Deutschlands zu etablieren, also mindestens Zweitligasiebter zu werden. Eine Marke, die die Braun-Weißen im Durchschnitt nicht ganz erreichten.

Außerdem forderte Göttlich eine Abkehr vom Heldenkult der Hamburger. „Man hat in der Vergangenheit immer versucht, Helden zu finden, darum geht es aber nicht. Der FC St. Pauli braucht die Gruppe, die starke Gemeinschaft, nur so haben wir auch früher Erfolge erzielen können.“ Das konnte man kaum falsch verstehen, man wollte es an mancher Stelle der Fanszene und auch im Verein aber falsch verstehen.

Sportchef Bornemann baute den Kader um

Andreas Bornemann verstand die Botschaft richtig. Nachdem der Freiburger am 1. Juli 2019 die Geschicke als Sportchef übernommen hatte, machte er sich sukzessive daran, den Kader umzubauen; boshaft formuliert: ihn auszumisten. Dazu gehörte es auch, sich von verdienten Helden zu verabschieden.

Unter Bornemanns Regie wurde der Vertrag des beliebten Torwarts Robin Himmelmann vorzeitig aufgelöst, die von langjährigen, aber teuren und irgendwann auch nicht mehr ganz so leistungsfähigen Stammspielern wie Christopher Buchtmann und Philipp Ziereis wurden nebst den anderen Dauerbrennern nicht mehr verlängert. Es hieß Tschüs statt Moin. Die Kommunikation dessen verlief wohl teilweise auch intern, definitiv aber nach außen mitunter unglücklich.

St. Pauli setzt seit Jahren auf Spielkultur

Der sportliche Ertrag sollte sich aber einstellen. In den vergangenen fünf Jahren entwickelte sich ausgerechnet der immer so bravourös kämpfende FC St. Pauli zu einer sehenswerten Mannschaft, die Spaß machen und souveränen Ballbesitzfußball aufziehen konnte. Und das wohlgemerkt auch schon unter dem 2020 inthronisierten Cheftrainer Timo Schultz.

Womit wir beim tragischsten Kapitel des Heldenepos angelangt wären, der Trennung von Schultz, einer der größten Ikonen des Vereins, Mitglied der legendären und bis dato letzten Aufstiegsmannschaft 2010, 17 Jahre lang St. Paulianisches Inventar und jemand, dessen Foto im Lexikon neben allen Begriffen abgedruckt sein muss, die den Wortstamm „Sympathie“ beinhalten.

Schwere Entscheidung: Timo Schultz wurde entlassen

Unter dem jetzigen Trainer des 1. FC Köln hatte St. Pauli 2021/22 einen starken fünften Platz belegt, war in der Folgesaison nach der Hinrunde aber auf Rang 15 abgestürzt und in Abstiegsnöten. Göttlich und Bornemann stellten Schultz schweren Herzens frei und riefen damit einen Sturm der Entrüstung hervor.

Bei der Mitgliederversammlung am 17. Dezember 2022 ging es hoch und teilweise wüst her. Bornemann krämpelte seinen blütenweißes Hemd hoch und holte schließlich zu einer sachlich fundierten und zugleich emotionalen Verteidigungsrede aus. Danach war Ruhe im Karton.

Wichtigste Entscheidung: Hürzeler wurde neuer Cheftrainer

Und wie Kai aus der Kiste (oder in diesem Fall: aus dem Karton) zauberten die Entscheidungsträger dann sechs Tage später Hürzeler als neuen Cheftrainer hervor. So, so, ein Teil des vorherigen Problems sollte nun also Teil der zukünftigen Lösung sein. Über die Weihnachtstage konnten die Gemüter abkühlen, bis Hürzeler am 29. Dezember schließlich erstmals „Moin“ auf dem für ihn größtmöglichen Podium sagte.

Und noch viel mehr sagte der im texanischen Houston geborene Mann. Dass es „ein absolutes Privileg“ sei, in dieser Funktion für den FC St. Pauli zu arbeiten. Brav. Aber auch, dass er keinerlei Zweifel habe, dieser Aufgabe gerecht zu werden.

Hürzeler hatte es zunächst schwer mit den Kritikern

„Ich definiere mich nicht über die Situation, sondern darüber, was ich meinen Spielern vermitteln kann. Diesen Job gehe ich zwar immer mit Respekt, aber auch voller innerer Überzeugung an“, sagte Hürzeler, dem Kritiker an dieser Stelle direkt den verwöhnten Zahnarztsohn aus gutem Hause attestieren wollten. Eine fundamentale Fehleinschätzung.

Der zu Beginn der Amtszeit erst 29-Jährige wollte sich einfach nur mit Fußball befassen. Von frühmorgens bis spätabends. „Fabian hat die Rolle nicht angenommen wie jemand, der die Mannschaft zwei Wochen bewegt, sondern die 14 Tage wie ein Cheftrainer nutzt“, sagte Bornemann damals über die Phase, in der Hürzeler als Interimscoach von Schultz übernommen hatte.

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Aber die Erfahrung, der hatte doch überhaupt keine Erfahrung! Dazu sagte Hürzeler einmal den sehr klugen Satz, er sei zwar „ein junger Mensch, aber kein junger Trainer“. Mit Beginn seiner Zwanziger startete der ehemalige Regionalliga-Spieler des FC Bayern seine Trainerlaufbahn, wollte stets höher hinaus, sprach schon von der Champions League, als er noch den FC Pipinsried (!) in der Bayern-Liga betreute.

Und noch etwas will er mehr als alles andere: gewinnen. Selbst bei Brettspielen im Kreis der Familie sollen die Figuren fliegen, wenn der intelligente, aber ausgesprochen ehrgeizige Hürzeler mal verliert. Gut nur: Er verliert mit dem FC St. Pauli so gut wie nie.

St. Pauli blieb saisonübergreifend 25 Partien ungeschlagen

Gleich die ersten zehn Begegnungen gewannen die Kiezkicker, bleiben saisonübergreifend 25 Partien ungeschlagen, was einen Zweitligarekord einstellt. Ihr Coach, das angeblich verwöhnte Bürschchen, wirkte dabei längst so cool, dass selbst Sean Connery und Jean-Paul Belmondo neben ihm knuffig wirken. Auf dem Platz dominierten die Kiezkicker, die von der zuvor praktizierten Mittelfeld-Raute abrückten, um in der Endabrechnung erstmals seit Einführung der Bundesligisten vor dem Stadtrivalen mit der Raute im Vereinslogo zu landen.

Den Weg dorthin ebneten auch kluge und günstige Transfers. Die Verpflichtung von Marcel Hartel beispielsweise, dem in dieser Saison unbestritten besten Spieler der Zweiten Liga. Oder die eines gewissen Jackson Irvine, einem dürren Schnauzbartträger mit langen Haaren, vielen Tattoos und einer Vorliebe für lackierte Fingernägel, der so unkonventionell ist, dass er – verzeihen Sie den Ausdruck – wie Arsch auf Eimer zum FC St. Pauli passt.

Nach dem Erfolg gegen Osnabrück ist St. Pauli wieder in der Bundesliga

Es war nicht mal ein wilder Ritt, der am 29. Dezember 2022 begann. Eher eine Reise im Deluxe-Abteil des Glacier-Express unter dem mit Schweizer Pass ausgestatteten Lokführer Hürzeler. Alles kulminierend im Sieg gegen den VfL Osnabrück, dem Aufstieg in die Bundesliga.

Göttlich und Bornemann waren angetreten, den Heldenkult beim FC St. Pauli abzuschaffen – und scheiterten krachend. Denn sie kreierten letztlich eine Mannschaft voller neuer Helden, die bis in alle Ewigkeit in den Vereinsannalen stehen. Helden, die nun der Bundesliga erst mal „Moin“ sagen werden.