Hamburg. Kapitän Jackson Irvine unterstützt das Awareness-Konzept des Vereins, der im Stadion eine „sichere Umgebung“ für alle anstrebt

Es ging nicht anders: Dieser Besucher musste gehen. Nach einem üblen rassistischen Ausfall wurde ein Fan des FC St. Pauli des Millerntor-Stadions verwiesen. Er saß im VIP-Bereich. Es war der einzige Stadionverweis in den bislang zwei Spielen, in denen das Awareness-Team des Clubs im Stadion arbeitete.

Erstmals beim Spiel gegen Hertha BSC am 10. März waren die „Awareness-Teams“ im Millerntor-Stadion zum Einsatz gekommen. Am Aktionstag „Kein Platz für Rassismus“ gegen die SV Elversberg (So, 13.30 Uhr) stehen sie nun zum dritten Mal bereit, um Menschen beizustehen, die Opfer von Belästigung oder Diskriminierung werden.

FC St. Pauli: Kapitän Irvine unterstützt Awareness-Konzept

Dass Jackson Irvine ein Mensch ist, dessen Denken weit über den nächsten Spielaufbau oder den kommenden Gegner hinausgeht, ist längst bekannt. Er tritt für die Rechte von Minderheiten ein, gegen Homophobie, für eine gerechte Behandlung australischer Ureinwohner, den Umweltschutz – das alles glaubwürdig und ehrlich. Ein würdiger Kapitän des FC St. Pauli, auch deswegen.

Natürlich unterstützt der 31-Jährige auch das Awareness-Konzept (dt.: Bewusstsein, Aufmerksamkeit) des Vereins. „Das ist eine großartige Initiative und sehr fortschrittlich“, sagte Irvine, „Wir wollen nicht nur im Fußball Standards setzen, wichtig ist es, eine sichere Umgebung für jedermann zu schaffen.“

Auch am Millerntor gibt es regelmäßig Übergriffe

Pöbeleien, Grapschereien, dumme und geschmacklose Sprüche, rassistische und sexistische Beleidigungen, all das findet regelmäßig auch auf Stadiontribünen statt. „Es kommt sicher für viele überraschend, dass auch beim FC St. Pauli solche Sachen passieren“, sagt Franziska Altenrath (33), Leitung Strategie, Veränderung und Nachhaltigkeit beim FC St. Pauli.

Um dagegen vorzugehen und Betroffenen ein Gefühl von Sicherheit zu geben, hat der FC St. Pauli, gemeinsam mit dem Fanladen (Fanprojekt) und der Faninitiative AK Awareness, das Konzept entwickelt. „Das große Ziel ist sicherlich, ein breites Bewusstsein dafür zu schaffen, was diskriminierend ist und was einfach nicht geht“, sagt Altenrath, „alle Formen von Diskriminierung – auch subtile – sollen weichen.“

Teams stehen auf jeder Tribüne zur Hilfeleistung bereit

Auch der weiteste Weg beginnt nach Konfuzius ja mit dem ersten Schritt. So gesehen macht der FC St. Pauli gegen Elversberg schon den dritten. Da steht wieder auf jeder der vier Tribünen ein Team aus zwei bis drei Menschen bereit, die durch lila Westen mit der Aufschrift AWARE­NESS gekennzeichnet sind.

Neben der Möglichkeit, das Team direkt anzusprechen, kann dieses auch über den Ordnungsdienst oder das Servicepersonal gerufen werden. Alle Mitarbeitenden im Stadion sind geschult und miteinander verbunden. In der Einsatzleitung sitzt normalerweise Antje Grabenhorst, die den Bereich Awareness koordiniert.

„Vertrauen muss sich weiter aufbauen“

Die Mitglieder der Teams arbeiten ehrenamtlich. „Es gab viele Bewerbungen von Freiwilligen, die an diesem Projekt mitarbeiten wollen. Es ist ein Thema, das vielen Menschen am Herzen liegt“, berichtet Altenrath. Die Mitarbeitenden wurden umfassend geschult, bevor sie ins Team geholt wurden. Denn eines ist besonders wichtig: „Die Mitarbeiter mussten lernen, zu 100 Prozent die Perspektive der Betroffenen einzunehmen.“

Das ist ganz entscheidend für eine erfolgreiche Arbeit, es darf keine Relativierungen geben. „Es braucht viel Vertrauen in die Awareness-Strukturen des Vereins, damit Menschen sich an die Teams wenden, wenn es Grenzüberschreitungen gibt“, so Altenrath: „Dieses Vertrauen wird sich mit der Zeit weiter aufbauen. Die ersten beiden Spiele waren jedoch ein guter Start.“

Der HSV hat seit 2020 eine Anlauf- und Schutzstelle

Auf allen vier Tribünen wurden zudem Räume eingerichtet, die als sichere Rückzugsorte dienen. Das war angesichts der beengten Verhältnisse im Stadion gar nicht so einfach, wurde aber ermöglicht.

Auch der Nachbar HSV ist dieses Thema angegangen. Schon Anfang des Jahres 2020 hat der Verein im Volksparkstadion eine Anlauf- und Schutzstelle für Hilfe- und Ratsuchende geschaffen, die am Spieltag Diskriminierung und/oder Gewalt (mit)erlebt haben. Mobile Teams hat er allerdings noch nicht im Einsatz.

Fans riefen Arbeitskreis von sich aus ins Leben

Beim FC St. Pauli gab es bereits vor längerer Zeit eine ausgiebige Aufarbeitung von sexuellen Belästigungen auf der Südtribüne durch die Ultras. Der Arbeitskreis Aware­ness wurde von Fans ins Leben gerufen, mit dem Ziel, „über grenzüberschreitendes Verhalten und Diskriminierung im Fußballkontext aufzuklären, zu sensibilisieren und Hilfestellung anzubieten“.

Der Austausch mit dem Arbeitskreis war für das „offizielle“ Awareness-Konzept des Vereins ganz wichtig. „Wir hatten dadurch einen sehr guten internen Input aus dem Verein heraus“, sagt Altenrath.

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Nach jedem Spieltag wird ein Aware­ness-Bericht erstellt, die Teams nehmen auch Berichte von Zeugen entgegen. Zunehmend wird dadurch auch eine Datenlage geschaffen, was und wo die größten Probleme sind, welche Art der Diskriminierung am häufigsten ist. Es ist übrigens keinesfalls so, dass vor allem jugendliche Stehplatzbesucher unter Alkoholeinfluss am auffälligsten sind.

„Die Sorge oder Angst, Opfer von Übergriffen oder Beleidigungen zu werden, kann auch eine Barriere sein, ins Stadion zu kommen. Deshalb ist das auch ein Inklusionsthema“, sagt Franziska Altenrath: „Wir wollen aber das Millerntor barrierefrei haben, wir wollen, dass sich alle Menschen hier wohl und sicher fühlen.“

Das ist auch etwas, was Jackson Irvine absolut unterstützt: „Wenn Awareness weiter in die Gesellschaft getragen wird, ist es eine gute Sache. Ich hoffe, es kann etwas Positives zum Spieltagserlebnis für die Fans beitragen.“