Hamburg. Präsident Oke Göttlich, Trainer Ewald Lienen und Sportchef Thomas Meggle sprechen über die neue Saison und Grundsätze von St. Pauli.
An diesem Sonnabend (15.30 Uhr) startet der FC St. Pauli in eine neue Ära. Zum Zweitliga-Auftakt gegen Arminia Bielefeld wird die neue Nordtribüne des Millerntor-Stadions erstmals komplett geöffnet und wie das gesamte, jetzt fertiggestellte Stadion ausverkauft sein. Insgesamt 29.546 Zuschauer finden jetzt in der Arena Platz. Über den Abschluss dieses rund neun Jahre langen Bauprojekts und die daraus erwachsenden Chancen, die künftige Rolle des Kiezclubs im deutschen Profigeschäft und aktuelle Probleme sprach das Abendblatt mit Präsident Oke Göttlich, Cheftrainer Ewald Lienen und Sportchef Thomas Meggle.
Hamburger Abendblatt: Herr Göttlich, hat Sie das Aufsehen überrascht, das Ihre Aussagen zum Thema Selbstherrlichkeit beim FC St. Pauli ausgelöst haben?
Oke Göttlich: Nein, das hat es nicht. Ich finde es aber beachtlich, ja sogar erfreulich, dass diese Themen auf ein offenbar großes Interesse gestoßen sind. Inzwischen habe ich dazu auch mehrere persönliche Gespräche geführt.
Noch einmal nachgefragt: Sind nicht Typen gerade im Sport sehr wichtig oder sogar notwendig und genau das, was erst das Interesse an einem Sport oder einem Team bewirkt?
Göttlich: Sind nicht vielmehr Projektionen von Typen das Problem, dass wir andere Leute nicht wachsen lassen können und so sehr schnell Trainer, Spieler, Verantwortliche austauschen und keine Kontinuität wachsen lassen können?
Ewald Lienen: Die Frage, ob der Sport Helden braucht, ist zu kurz gegriffen. Es geht hier überhaupt nicht darum, die Verdienste von Personen in der Vergangenheit kleinzureden. Natürlich ist es auch unser Ziel, dass das Publikum Spieler mag, die herausstechen oder eine besondere Rolle spielen. Aber ich glaube, dass es bei Okes Aussagen nicht ansatzweise darum ging. Er hat auch nicht gemeint, man dürfe nicht jemandem zujubeln. Das wäre doch abstrus.
Göttlich: Selbstverständlich dürfen wir einen Lasse Sobiech feiern, wenn er in der 90. Minute das Siegtor gegen Nürnberg erzielt. Es geht mir um etwas ganz anderes. Es ist kontraproduktiv, wenn Entscheidungen von außen bewertet werden, ohne die Hintergründe zu kennen, wenn übereinander statt miteinander gesprochen wird. Wenn eine getroffene Entscheidung immer sofort nicht intern, sondern extern infrage gestellt wird, zersetzt man einen Traditionsverein. Der Grund, warum die Dritte Liga ein Friedhof der Traditionsvereine geworden ist, liegt zum Teil daran, dass Leute mit ihrem Vereinsdasein nicht abschließen konnten, sondern auch in einer „Nichtfunktion“ immer weiter Politik oder Kommunikation betrieben haben. Damit spreche ich diesen Menschen nicht ab, dass sie fantastische Leistungen gebracht haben und, im Falle des FC St. Pauli, ein unfassbar braun-weißes Herz haben. Aber es ist fatal, wenn sie versuchen, gewisse Themen für eigene Zwecke zu nutzen.
FC St. Pauli besiegt Vallecano
Herr Meggle, wie sehen Sie als ehemals umjubelter und von den Fans verehrter St.-Pauli-Spieler die Problematik?
Meggle: Ich durfte ja an zwei Generationen von St.-Pauli-Teams mitwirken. Und jede dieser Spielergenerationen beim FC St. Pauli hat ihre Bedeutung und ihren Stellenwert. Aber es muss
immer Raum für Neues bleiben. Wenn wir es global betrachten, lebt der Sport von Helden und ihren Geschichten. Wenn wir 30 Jahre zurückblicken,
ist Boris Becker Wimbledonsieger geworden. Seit er und Steffi Graf auf-
gehört haben Tennis zu spielen, sind alle nachfolgenden Generationen mit ihnen verglichen worden. Das ist das Problem, das auch Oke angesprochen hat. Hier ist ein Vakuum entstanden. Es muss ja erst einmal etwas passieren. Als wir damals in die Bundesliga aufgestiegen sind, war das eine tolle Leistung. Wir sind dann aber auch wieder abgestiegen, und es gab dann ein paar Jahre genau dieses Vakuum. Wenn wir heute von der bisher letzten Heldengeneration sprechen, war das genau die Mannschaft, der man in der Saison der großen Pokalserie vorgeworfen hat, dass sie nur gut spielt, wenn die Kameras angestellt sind, aber gegen Kickers Emden rumkrebst.
Göttlich: Es geht aktuell darum, die große Erleichterung nach dem Klassenerhalt in eine Aufbruchstimmung zu transformieren. Wir wollen, dass Umfeld, Mannschaft und Stadtteil unsere Werte wieder leben können, möglichst abseits von Arbeitsplatz- und Abstiegssorgen. Es geht uns viel weniger um den Blick nach hinten als um den nach vorn.
Wie weit sind Sie in den ersten acht Monaten Ihrer Amtszeit gekommen, den FC St. Pauli nach Ihren Vorstellungen zu gestalten?
Göttlich: Ich gestalte den FC St. Pauli in keiner Weise allein, sondern mit vier weiteren Präsidiums-Mitgliedern und sieben Aufsichtsräten. Wir sind und bleiben ein mitgliederbestimmter Verein. Dazu kommen die kaufmännische und sportliche Geschäftsleitung sowie die sportliche Leitung in Form des Trainerteams. Tatsache ist, dass wir auf der Jahreshauptversammlung am 16. November einen tabellarischen Sanierungsfall übernommen haben. Wir standen auf dem vorletzten Tabellenplatz. Am Ende haben wir alle gemeinsam den Klassenerhalt auch deshalb geschafft, weil wir andere als die sonst üblichen Wege gegangen sind. Wir haben mit zehn bis 15 Leuten darüber gesprochen, was zu tun ist, ohne explizit das Ziel zu haben, einen neuen Trainer und Sportdirektor zu verpflichten. Wir haben am Ende eine schnelle, unpopuläre, aber erfolgreiche Lösung gefunden. Wir lassen uns nicht an Popularität messen, vielmehr sind wir alle von Ergebnissen abhängig. Wir agieren im Zweifel gemäß des Fangesangs „No one likes us, we don’t care“. (Keiner mag uns, aber das stört uns nicht).
Sie sprechen vom Sanierungsfall FC St. Pauli. Meinen Sie das nur sportlich?
Göttlich: Ich meine es größtenteils sportlich. Aber das Sportliche ergibt auch das Wirtschaftliche, das vergessen oft viele. Das Sportliche ist unser Aushängeschild, das unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten in den folgenden zwölf Monaten bestimmt. Fakt ist: Mit finanziell gut ausgestatteten Möglichkeiten – noch aus Erstliga TV-Rankingzeiten – haben wir uns sportlich nicht stabilisieren können. Eher im Gegenteil, wie die vergangene Saison zeigte. Viele denken, dass der FC St. Pauli ja eine tolle Marke ist, die wirtschaftlich immer irgendwie funktioniert. Aber wenn wir dauerhaft nur um Platz 13 und 15 spielen, werden wir deutlich weniger Geld zur Verfügung haben als auf den Plätzen vier bis sieben.
Was sagen Sie denen, die beklagen, es gehe Ihnen darum, sich von möglichst vielem Alten zu trennen?
Göttlich: Das muss ich klar zurückweisen. Ein Michael Meeske zum Beispiel hat hier über zehn Jahre niemals seine Eitelkeit über den Verein gestellt. Er hat den Verein vielmehr weit nach vorn gebracht. Wir waren überhaupt nicht froh, hier etwas Altes zu verlieren. Uns interessiert doch nicht, ob etwas alt oder neu ist. Aber ich frage: War der Verein in den vergangenen Jahren so erfolgreich wie möglich?
Lienen: Seit ich hier bin, kann ich nur feststellen, dass es Oke und seinem Präsidium nicht darum geht, irgendwelche Personen, alte Helden oder sonst irgendjemanden auszuschließen oder auszugrenzen. Vielmehr ist jeder, der es ehrlich meint und seine persönlichen Interessen unter die des Vereins stellt, herzlich willkommen mitzuarbeiten.
Meggle: Unser Grundproblem ist doch Folgendes: Es gibt viele Menschen in unserem Umfeld, die von eigenen Interessen getrieben sind und sich gern in einer Funktion beim FC St. Pauli sähen. Erteilt man Absagen, kommt es schnell zu Vorwürfen, dass man niemanden aus der früheren Generation haben wolle. Schaut man aber mal genauer hin, stellt man fest, dass gerade im Nachwuchsleistungszentrum im Bereich U17, U19, U23, im Trainerteam der Profis oder auf der Geschäftsstelle ehemalige Spieler aus verschiedenen Generationen ihren Platz gefunden haben.
Blicken wir nach vorn. Mit welchem Gefühl gehen Sie in die neue Saison?
Göttlich: Wir haben den tollsten Neuzugang des gesamten deutschen Profifußballs – unsere Nordtribüne. Und wir haben ein Team, Fans und ein Umfeld, welche gemeinsam einen großen Unfall verhindert haben. Ich habe Bock auf das Team, das wie in den letzten Heimspielen alles gegeben hat. So stehen die Chancen gut, dass Freunde des FCSP wieder mit Mut und erhobenen Kopfes durch den Stadtteil gehen können.
Welche Chancen, aber auch Belastungen sind mit dem nun praktisch komplett fertigen Stadion verbunden?
Göttlich: Erst einmal freue ich mich auf die Akustik. Dieses Stadion wird noch mal lauter, als es schon war. Die finanziellen Belastungen sind seit Langem fest eingeplant und werden keine großen Ausschläge nach oben oder unten haben. Es ist eine unfassbare Leistung für einen FC St. Pauli, mit eigenen finanziellen Mitteln ein Stadion zu bauen, das nicht wie andere Arenen durch Steuergelder massiv subventioniert wird. Hier gilt ein ganz großer Dank allen Verantwortlichen – wie Corny Littmann, dem alten Aufsichtsrat und Präsidium, der Stadionbau AG, der Stadt, um nur einige zu nennen –, die daran von Beginn an beteiligt waren.
Wo hat der FC St. Pauli mittelfristig seinen Platz im deutschen Profifußball?
Göttlich: Der FC St. Pauli ist und bleibt das kritische Gewissen der beiden Bundesligen. Wir haben Punkte, mit denen wir nicht einverstanden sind. Die können wir nur artikulieren, wenn wir in der Ersten oder Zweiten Liga spielen. Dazu gehören fankulturelle, politische und verbandsstatutliche Aspekte. Wir haben den Anspruch, in einer der ersten beiden Ligen zu spielen.
Wie realistisch ist dies in einem Haifischbecken, dass immer mehr geprägt wird von Clubs und Kapitalgesellschaften, die von externen Investoren massiv unterstützt oder maßgeblich getragen werden, was der FC St. Pauli aus guten Gründen für sich nicht will?
Göttlich: Das Modell des FC St. Pauli, ein von seinen Mitgliedern bestimmter Verein zu sein, ist im Moment ein Modell, das dem aktuellen Hype nach schnellem Geld nicht entspricht. Allerdings werden wir als ein selbstbestimmter, unabhängiger Verein in Zukunft deutlich schneller, agiler, flexibler und entscheidungsfreudiger sein als ausgegliederte Kapitalgesellschaften. Nachhaltig finanzstark werden wir so ebenfalls sein können.
Meggle: Es geht darum, aus gewissen Dingen mehr zu machen und nicht das Vorhandene nur zu verwalten. Das Schlimmste ist, wenn man den Ist-Zustand nur beibehalten möchte. Das Entscheidende wird sein, Potenziale und Verbesserungsmöglichkeiten zu erkennen und zu nutzen und immer eine Nische zu finden, um aus dem Vorhandenen mehr zu machen.
Lienen: Ich meine, dass der FC St. Pauli gerade in einem solchen Haifischbecken mehr als nur das Recht hat, einen Platz zu beanspruchen. Genauso wie
es in der Gesellschaft wichtig ist, dass bestimmte Positionen vertreten werden. Ich sehe auch keinen Widerspruch zwischen der gesellschaftspolitischen Ausrichtung des Vereins und des
Anspruches, so gut und hoch wie möglich Fußball zu spielen und Nachwuchstalente auszubilden. Es ist meine Idealvorstellung, diese beiden Dinge zu
vereinen.