Hamburg. Schreibt Holstein Geschichte, während der HSV zweitklassig bleibt? Und wie konnte es so weit kommen? Eine Spurensuche.
Der kleine Junge mit dem Fiete-Arp-Trikot steht am Dienstagmittag vor dem echten Fiete Arp und macht große Augen. Was es denn heute zum Mittagessen gebe, will der Fiete-Fan schließlich von seinem Vorbild wissen. „Nudeln“, antwortet der große Arp lächelnd, schreibt noch ein Autogramm und geht dann zum nächsten Anhänger. 180 Zuschauer sind an diesem Ferientag zum Training von Holstein Kiel gekommen. So viele wie selten zuvor. Trotz Regenwetters und acht Grad. An jedem einzelnen Fan gehen Arp und Co. vorbei und erfüllen sämtliche Wünsche.
Es ist spürbar, dass hier in einem Waldstück am Steenbeker Weg gerade etwas Besonderes passiert. Vier Kamerateams und 15 Reporter sind an diesem Tag zum Trainingsgelände der Kieler Störche gekommen, die seit dem vergangenen Wochenende Tabellenführer sind und mit einem Sieg beim HSV am Sonnabend (20.30 Uhr) einen großen Schritt gehen können, um als erster Verein überhaupt aus Schleswig-Holstein in die Bundesliga aufzusteigen.
„Als Schleswig-Holsteiner kann ich es gut einschätzen, was es bedeuten würde, wenn Kiel es in die Bundesliga schafft“, sagt Arp wenig später, als er in kurzen Hosen und Gras an seinen Waden vor den Reportern steht und über ein vor Jahren noch unvorstellbares Szenario spricht. 2007 spielte Holstein Kiel im DFB-Pokal noch als Fünftligist gegen den großen HSV, der als Uefa-Cup-Teilnehmer mit Stars wie Rafael van der Vaart und Nigel de Jong im kleinen Holstein-Stadion am Westring spielte und 5:0 gewann.
HSV-Topspiel: Schreibt Kiel Geschichte?
17 Jahre später könnte es tatsächlich passieren, dass die Kieler am HSV vorbeiziehen und in der kommenden Saison als Bundesligist den FC Bayern München und den Deutschen Meister Bayer Leverkusen empfangen, während der HSV als Zweitligist zu Auswärtsspielen nach Ulm oder Elversberg reist.
Der in Bad Segeberg zwischen Kiel und Hamburg geborene Arp, der acht Jahre für den HSV spielte, will am Sonnabend dazu beitragen, dass dieses Szenario näher rückt. „Natürlich hoffe ich, dass ich in Hamburg ein Tor erziele und nicht der Idiot bin, der den Ball wieder an den Pfosten schießt“, sagt Arp auf Abendblatt-Nachfrage.
Vor fünf Jahren hatte sich der damals 19-Jährige mit einem Tor und anschließenden Tränen vor der Nordtribüne im Volksparkstadion am letzten Spieltag gegen den MSV Duisburg vom HSV Richtung Bayern München verabschiedet. Ein Jahr zuvor war Arp mit dem HSV aus der Bundesliga abgestiegen. Für den Erstliga-Dino war es der erste Abstieg nach 54 Jahren. Nun könnte Holstein Kiel der 58. Bundesligist der deutschen Fußball-Geschichte werden, während dem HSV der Titel des Zweitliga-Dinos droht.
Holtby erklärt Kiels Erfolgsrezept
Auch Lewis Holtby stand am 12. Mai 2018 auf dem Rasen, als der HSV trotz seines Tores beim 2:1-Sieg gegen Borussia Mönchengladbach erstmals in die Zweite Liga abstieg. Der Rheinländer ist mittlerweile 33 Jahre alt und erlebt an der Förde seinen zweiten Frühling. „Lewis brennt“, sagt ein Trainingsbesucher am Dienstag über den Mittelfeldmann der Kieler, der in der kommenden Saison nach sechs Jahren wieder in der Bundesliga spielen könnte.
Tatsächlich ist der ehemalige Hamburger mit lebenslanger HSV-Mitgliedschaft einer der Hauptgründe, warum Holstein Kiel trotz eines riesigen Umbruchs im vergangenen Sommer plötzlich auf Platz eins der Zweiten Liga steht. „Der gesamte Verein hält zusammen“, sagt Holtby, als sich die vielen Reporter vor ihm aufbauen und er nach dem Erfolgsrezept der KSV befragt wird.
Kiel trotz großen Umbruchs erfolgreich
Beim HSV war das in seiner Zeit noch anders. Auch Holtby selbst zeigte sich nicht immer als Teamplayer. Sein Abschied nach fünf Jahren Hamburg endete mit einem Streik vor dem Spiel bei Union Berlin. In Kiel ist Holtby unter Trainer Marcel Rapp auch als Persönlichkeit gereift und geht als Führungsspieler voran.
Im Sommer hatte Holstein mit Fabian Reese, Hauke Wahl, Alexander Mühling oder Fin Bartels langjährige Leistungsträger verloren und Sportchef Uwe Stöver dafür junge Talente wie Tom Rothe oder bis dahin kaum bekannte Profis aus dem Ausland wie Shuto Machino, Alexander Bernhardsson oder Marko Ivezic verpflichtet.
Stöver übergibt die Kaderplanung aktuell an den neuen Geschäftsführer Carsten Wehlmann. Der frühere HSV-Torwart hatte zuletzt Darmstadt 98 in die Bundesliga geführt.
Viele Ex-Hamburger in Kiel
„Wir wussten, dass es nach dem großen Umbruch extrem schwer wird und haben vom ersten Tag an hart gearbeitet. Wir haben einen geilen Teamgeist“, sagt nicht etwa Wehlmann, sondern Finn Porath. Das frühere HSV-Talent hat sich mittlerweile zum Stammspieler bei Kiel entwickelt. Er ist neben Holtby und Arp eines von vielen ehemaligen HSV-Gesichtern bei Holstein.
Am Dienstag schreitet zunächst Ex-HSV-Co-Trainer Dirk Bremser auf den Platz, gefolgt vom ehemaligen HSV-Videoanalysten und Trainerassistenten Alexander Hahn. Sie alle haben mit Hamburg den Aufstieg verpasst und könnten diesen nun mit Kiel feiern.
HSV gegen Kiel ist David gegen Goliath
Von einer Wachablösung im Norden wollen sie aber alle nichts wissen. „Wenn die kleinen Kieler nach Hamburg kommen, werden wir immer demütig und mit großem Respekt anreisen“, sagt Arp. Auch Holtby meint: „Für den jetzigen Moment ist das immer noch David gegen Goliath. Der HSV ist einer der Top-Fünf-Traditionsvereine in Deutschland mit einer unglaublichen Reichweite, auch international“, sagt Holtby, der als ehemaliger Schalker aber auch weiß, dass man sich mit der Tradition weder in Gelsenkirchen noch in Hamburg etwas kaufen kann.
Stattdessen macht es Kiel dem HSV vor, wie ruhiges und kontinuierliches Arbeiten geht, wenngleich die Standorte nur schwer vergleichbar sind.
Wie Kiel den HSV überflügelte
Wirtschaftlich kann Kiel mit dem HSV allein schon wegen der Zuschauerkapazität von aktuell 15.000 nicht mithalten – trotz der großzügigen finanziellen Unterstützung der Geldgeber Gerhard Lütje, Inhaber der Citti-Märkte, und Hermann Langness, Besitzer der Famila-Gruppe. Die Mitgliederzahlen wachsen zwar kontinuierlich, liegen mit aktuell 4200 aber um Welten hinter dem HSV, der gerade erst die Marke von 110.000 Mitgliedern knackte.
Mit Präsident Steffen Schneekloth und dem kaufmännischen Geschäftsführer Wolfgang Schwenke setzt Kiel seit Jahren auf Konstanz auf den wichtigen Führungspositionen. Und auch Trainer Marcel Rapp zeigt auf seiner ersten Profistation als Chefcoach eine Entwicklung. An seinem 45. Geburtstag bekommt der frühere Jugendtrainer von 1899 Hoffenheim am Dienstag von Fans und Spielern mehrere Ständchen gesungen.
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Rapp hat es in seinem dritten Jahr geschafft, eine homogene Einheit auf dem Platz zu formen. „Wir verstehen uns alle fantastisch“, sagt Holtby. „Wir sind sehr familiär hier“, meint Porath. „Die Fans merken, dass wir nicht nur Schönwetterfußball spielen, sondern hart arbeiten und meistens mehr laufen als der Gegner“, sagt Arp und ergänzt: „Als neutraler Fußballfan würde ich sagen, dass es Spaß macht, bei Holstein Kiel zuzugucken.“
HSV – Kiel: Holtbys Mickey-Mouse-Vergleich
Der mittlerweile 24-Jährige rechnet auch am Sonnabend wieder mit Pfiffen, wenn er wie bei den bislang letzten beiden Kieler Partien in Hamburg (1:1/0:0) voraussichtlich eingewechselt wird. „Ich kann mir vorstellen, dass die Stimmung jetzt noch mal etwas aufgeheizter ist, weil mehr auf dem Spiel steht. Aber dafür machen wir das“, sagt Arp. „Ich freue mich einfach auf ein stimmungsgeladenes Spiel. Ich will das einfach genießen, auch wenn ich ein wenig einstecken muss.“
Die Kieler strotzen nach fünf Siegen ohne Gegentor derzeit nur so vor Lockerheit und Selbstvertrauen. Allen voran Lewis Holtby, der während seines Interviews am Dienstag mehrfach laut lacht. Vor seiner Rückkehr in den Volkspark erweckt er wie alle seine Kollegen nicht den Eindruck, dass ihnen auf dem Weg, Geschichte zu schreiben, noch etwas passieren kann. Holtbys Schlussworte: „Wir werden einfach wieder unseren Job machen. Fertig aus, Mickey Mouse.“