Hamburg. HSV trennt sich von Trainer Tim Walter und findet eine Interimslösung. Vorstand Jonas Boldt erklärt seine Entscheidung.
Das Bild hätte viel eindeutiger kaum sein können, als die Profis des HSV am Montagnachmittag den Trainingsplatz betraten. Am Tag der Beurlaubung von Trainer Tim Walter kam die Mannschaft geschlossen aus der Kabine, um zu demonstrieren, weiterhin eine Einheit zu sein. Inmitten der Spielertraube hatte sich auch einer gemischt, der vom bisherigen Assistenten zum neuen Interimscoach aufgestiegen ist: Merlin Polzin.
Bei seiner Premiere als Chef führte der 33-Jährige eine Taktiktafel bei sich. Nach einer dreiminütigen Mannschaftsansprache gab er lautstarke Anweisungen mit seiner wie gewohnt etwas heiser klingenden Stimme und besprach sich mit Loic Favé, der seit dem Winter als Leiter Sport des Nachwuchsleistungszentrums tätig ist und Polzin vorerst unterstützt.
Keine 15 Minuten zuvor endete im Volksparkstadion die Pressekonferenz des HSV, auf der Sportvorstand Jonas Boldt die Trennung von Walter erklärte. Die Entscheidung sei ihm „nicht leicht gefallen“, sagte der in einem dunkelgrauen Sakko und einem schwarzen Rollkragenpullover gekleidete Boldt in seinem Eingangsstatement. Es habe die Gefahr bestanden, dass die Situation „aus dem Ruder“ laufe, ergänzte der Manager, der den Aufstieg gefährdet sah. „Wir haben uns zum Handeln gezwungen gefühlt.“
HSV: Polzin übernimmt für Walter
Vorausgegangen waren viele Gespräche, die Boldt am Wochenende führte. Walter wurde zum Verhängnis, dass er nicht für die nötige Stabilität sorgen konnte. In den beiden jüngsten Heimspielen gegen Karlsruhe und Hannover (jeweils 3:4) kassierte der HSV acht Gegentore. Zudem wirkten viele Spieler verunsichert, darunter auch Leistungsträger wie Rechtsverteidiger Ignace Van der Brempt. Zuletzt bröckelte sogar der Rückhalt der lange Zeit hinter Walter stehenden Fans, die das 3:4 am vergangenen Freitag gegen Hannover mit Pfiffen quittierten.
„Es ist eine allgemeine Verunsicherung auf den Rängen und auf dem Platz entstanden“, beschrieb Boldt die Problematik. „Wir haben die Stabilität und die Überzeugung, also das, was uns stark macht, verloren.“ In Gesprächen mit den Spielern hätte zwar keiner gegenüber Boldt das Aus von Walter gefordert. Doch Boldt habe eine Verunsicherung gespürt, die „in den letzten Wochen deutlich größer war als in den Jahren oder Monaten zuvor“.
Polzins Hauptaufgabe wird es daher sein, den Profis wieder Selbstvertrauen zu vermitteln, um sie an ihr Leistungsmaximum zu führen. In Rostock werde der 33-Jährige „zu 100 Prozent“ auf der Bank sitzen, sagte Boldt, der diese Entscheidung „aus voller Überzeugung“ getroffen habe.
Boldt arbeitet an Trainer-Lösung beim HSV
Möglicherweise wird Polzin sogar über die Partie hinaus die Mannschaft leiten, wenn es ihm gelingt, für mehr Spielkontrolle und Stabilität zu sorgen, die zu mehr Konstanz führen soll. Denn unter Walter gelang es dem HSV erst zweimal in dieser Saison, zwei Spiele in Folge zu gewinnen. „Diese Berg- und Talfahrt tut uns nicht gut“, sagte Boldt über die zuletzt wilden Heimauftritte. Der Vorstand stellte aber zugleich klar, „keinen 180-Grad-Wechsel zu vollziehen“.
Polzin, der 2020 aus Osnabrück als Assistent von Daniel Thioune zum HSV gewechselt war, bescheinigte Boldt eine „super Entwicklung“. Er sei „ein großes Trainertalent“, „ein Fachmann“, der auf der offensiven Spielweise aufbauen soll, die Walter etabliert hat. „Es sind gar nicht so große Themen, die wir anpassen müssen“, sagte Boldt. „Leider haben wir in den Heimspielen dafür gesorgt, dass alles über Bord geworfen wurde.“
In den nächsten Wochen will Boldt „in Ruhe entscheiden“, wie es personell beim HSV weitergehen soll. „Wir werden überlegen, was mittel- und langfristige Lösungen sein können“, kündigte der HSV-Vorstand an, der die Tür für Polzin geöffnet lässt. „Merlin wird dabei definitiv eine Rolle spielen, egal in welcher Konstellation.“ Mit anderen Worten: Wie lange Polzin als Interimstrainer tätig sein wird, ist genauso offen wie seine mögliche Rückkehr in die zweite Reihe als Co-Trainer eines noch zu findenden Chefcoaches.
Baumgart? Wicky? Das ist der Stand
In den kommenden Tagen werden die Gespräche intensiviert, welcher Trainer die Mannschaft zum Aufstieg führen soll. Nach Abendblatt-Informationen gab es bislang noch keinen Kontakt zu dem momentan vereinslosen und immer wieder gehandelten Steffen Baumgart.
Beschäftigt haben soll sich der HSV auch mit dem Ex-Hamburger Raphael Wicky, der mit den Young Boys Bern sehr erfolgreiche Arbeit leistet und sich für die K.-o.-Phase der Europa League qualifiziert hat. Nach Abendblatt-Informationen wird der Schweizer Tabellenführer dem 46-Jährigen allerdings keine Freigabe während der Saison erteilen. Im Sommer läuft Wickys Vertrag aus, die Verhandlungen um eine Verlängerung sollen sich schwierig gestalten.
„Natürlich kennen wir den Markt gut und wissen, was wir wollen“, sagte Boldt, der klarstellte, dass „manche Namen, die herumgeistern vielleicht gar nicht umsetzbar“ seien oder „am Ende vielleicht nicht passen könnten“.
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HSV-Chance für Merlin Polzin
Die Tatsache, dass beim HSV momentan nichts auf eine schnelle Nachfolgelösung hindeutet, ist nun auch eine Chance für Polzin, der jedoch vorerst auf den zurzeit formstärksten Spieler verzichten muss. Mittelfeldantreiber Laszlo Benes (elf Tore und acht Vorlagen) wurde am Montag für drei Zweitligaspiele vom DFB-Sportgericht gesperrt. In den kommenden Wochen wird der Slowake durch Vizekapitän Ludovit Reis ersetzt, der nach seiner Schulterverletzung langsam an die Mannschaft herangeführt werden sollte.
Zudem steht Kapitän Sebastian Schonlau, der am Montag erstmals wieder mit der Mannschaft trainierte, vor der Rückkehr in den Kader. Eine Nachricht, die auch Polzin am Montag erfreute.