Hamburg. Relegationsgegner Stuttgart ist individuell deutlich stärker besetzt. Doch der HSV hat seine Stärken, wo der VfB Probleme hat.

Das Spielfeld im Volksparkstadion gleicht momentan einer Baustelle. Nach den beiden Konzerten von Metal­lica fanden am Dienstag auf dem einstigen Grün die Aufräumarbeiten statt. An diesem Mittwoch wird der HSV einen neuen Rollrasen verlegen, der bis zum Relegationsrückspiel am kommenden Montag gegen Erstligist VfB Stuttgart nur fünf Tage Zeit hat, anzuwachsen.

Eine kaum zu bewältigende Herausforderung für die Greenkeeper, weil der Rasen in der Kürze der Zeit gar nicht fest verwurzeln kann.

Doch über diese Problematik wird sich Tim Walter erst nach dem Hinspiel gegen den VfB (Donnerstag, 20.45 Uhr) Gedanken machen. Für den HSV-Trainer steht zunächst im Fokus, dass sich die Bilder vom in Sandhausen erlittenen Drama nicht zu sehr in den Köpfen der Spieler verwurzeln.

HSV vor schnellen VfB-Profis gewarnt

Nur wenige Meter neben den Arbeiten am Stadion versuchte Walter am Dienstag durch lockere Spielformen zu vermitteln, dass Fußball auch Spaß machen kann und nicht nur „grausam“ (Kapitän Sebastian Schonlau) sein muss, so wie am Sonntag, als dem HSV der bereits umjubelte Aufstieg noch entrissen wurde.

Drei Tage später versuchte der HSV-Coach, die vermeintliche Hypothek rund um den Platzsturm mit positiven und vor allem selbstbewussten Gedanken zu bekämpfen. „Wir haben morgens darüber geredet und eine Jetzt-erst-recht-Mentalität entwickelt“, sagte Walter. „Unsere Chance ist weiterhin da, und das macht uns glücklich.“

Ganz und gar nicht glücklich sei dagegen der VfB über den HSV als Gegner, mutmaßte Walter. „Es ist schwer, gegen uns zu spielen“, sagte der HSV-Coach auf die Frage, wie seine Mannschaft den Qualitätsunterschied gegen den Erstligisten wettmachen will. Denn auf den ersten Blick wirkt Stuttgart übermächtig.

Spieler wie Wataru Endo, Stürmer Serhou Guirassy, Silas, Tiago Tomas und Borna Sosa bringen eine höhere individuelle Qualität mit als die Hamburger. Mit seinen schnellen Angreifern hat der VfB seine Stärken bei Kontern. Ballverluste der für gewohnt extrem hochstehenden und nach spielerischen Lösungen suchenden HSV-Verteidiger könnten somit zum Knackpunkt werden.

Wie HSV-Coach Walter VfB schlagen will

Doch der gewohnt selbstbewusste Walter lässt sich von dieser Vorstellung nicht in seiner taktischen Herangehensweise beeinflussen. „Wenn wir den Gegner hinten binden, wird er Probleme haben, sich offensiv einzuschalten“, sagte der HSV-Coach, der dem Bundesligisten seine Spielweise aufdrücken will. „Unser Ziel ist es, den Gegner so sehr zu beschäftigen, dass seine Stärken nicht zur Geltung kommen, sondern unsere.“ Es dürfte daher wenig überraschen, wenn der HSV, wie fast immer unter Walter, auch in Stuttgart mehr Ballbesitz als der Gegner haben wird.

Trotz dieser offensiven Ausrichtung räumt der 47-Jährige ein, als Außenseiter in die beiden K.o.-Spiele zu gehen. „Der Erstligist ist immer in der Favoritenrolle, weil er mit einem höheren Etat eine Liga höher spielt.“ Tatsächlich wurde die Stuttgarter Mannschaft (60 Millionen Euro) mit einem fast dreimal so großen Budget wie die Hamburger (22) zusammengestellt. Und dennoch muss einiges schieflaufen, wenn diese Voraussetzungen nur für Platz 16 der Bundesliga reichen.

Das Abendblatt hat sich in Stuttgart umgehört und fünf zentrale Gründe ausgemacht, die fast alle ein Gegenstück zum HSV darstellen. Demnach muss der individuell besser besetzte VfB um den Klassenerhalt bangen, weil die Spieler keine Einheit bilden, unzureichend mit Drucksituationen umgehen, eine Achse fehlt, die Fehlerquote zu hoch ist und dauerhafte Unruhe im Verein herrscht.

Stuttgart hat Probleme – Vorteil HSV?

Doch der Reihe nach: Die fehlende Einheit machen Beobachter des VfB an defizitären Abläufen auf dem Platz fest. Insbesondere die Angriffsreihe um Guirassy, Tomas und Silas soll wegen sprachlicher Barrieren erhebliche Kommunikationspro­bleme haben. Die Spieler sollen sich teilweise über sich selbst wundern, wie unsortiert sie über den Rasen laufen. Eine Pro­blematik, die sich unter dem im April verpflichteten Trainer Sebastian Hoeneß zwar verbessert haben soll. Doch wegen der fehlenden Achse könnte sie auch gegen den HSV erkennbar sein.

Stuttgarts Stürmer Serhou Guirassy (r.) und Tiago Tomas bringen viel Qualität mit, doch sie harmonieren nicht miteinander.
Stuttgarts Stürmer Serhou Guirassy (r.) und Tiago Tomas bringen viel Qualität mit, doch sie harmonieren nicht miteinander. © Imago / Sven Simon

Denn im Stuttgarter Kader werden vergeblich Führungsspieler gesucht. Kapitän Endo ist ein stiller Leader, aber kein Lautsprecher. Für diese Rolle waren Waldemar Anton, Konstantinos Mavropanos und Sosa vorgesehen, doch alle drei Profis haben zu sehr mit sich selbst zu kämpfen. Es ist ein Manko, das zum entscheidenden Vorteil für den HSV werden könnte, der sowohl über eine klare Achse um Daniel Heuer Fernandes, Schonlau, Jonas Meffert, Ludovit Reis und Robert Glatzel verfügt, also auch eine Einheit geformt hat.

Eine Parallele zwischen beiden Teams ist bei der Vielzahl an individuellen Fehlern zu erkennen. Während beim HSV Linksverteidiger Miro Muheim in dieser Saison zu viele Gegentore verschuldete, hat Stuttgart die größte Baustelle auf der Torhüterposition. Die Patzer des Duos Florian Müller (19 Spiele) und Fabian Bredlow (15 Spiele), der gegen den HSV im Tor stehen wird, haben den VfB bereits neun Punkte gekostet. Hinzu kommen regelmäßige Aussetzer der Defensive, doch dieses Problem kennt der HSV.

Die HSV-Chancen gegen Stuttgart

Im Umgang mit Drucksituationen gerät der Scheinriese VfB dagegen ins Wanken. Stuttgart hat die gesamte Saison zwei Gesichter gezeigt. Auf ein gutes folgte ein schlechtes Spiel. Kon­stanz? Fehlanzeige! Ganz anders präsentiert sich der HSV, der unter Walter imstande ist, Rückschläge wie den Fast-Aufstieg in Sandhausen zu verarbeiten. „Meine Spieler haben viel Charakter, sie sind zusammengewachsen und richten sich gegenseitig wieder auf“, sagt Walter, dessen Mannschaft auch vom unruhigen Stuttgarter Umfeld profitieren könnte.

Das Dauerchaos auf der Chefetage um Vorstandsboss Alexander Wehrle und den bei Fans und Spielern beliebten, aber im November entlassenen Sportdirektor Sven Mislintat wirkt sich auf die Mannschaft aus und soll zum Bruch bei Teilen der Mannschaft geführt haben.

Mit chaotischen Zuständen kennt man sich zwar auch beim HSV aus, doch die Verantwortlichen um Walter, Sportvorstand Jonas Boldt und Kaderplaner Claus Costa demonstrieren Geschlossenheit. Anders als der VfB präsentieren sich die Hamburger auf und neben dem Platz wie eine Einheit. Ob dieser Zusammenhalt den Qualitätsunterschied kaschieren kann?