Hamburg. Individuelle Fehler bringen viele Gegentore und gefährden den Aufstieg. Ein Qualitätsproblem? Oder liegt es an Walters Spielsystem?
Moritz Heyer hatte schon so eine Vorahnung. Der Rechtsverteidiger des HSV verfolgte am Sonntag nicht Sky auf seinem Fernseher, sondern fuhr stattdessen lieber zu seinen Eltern nach Ostercappeln (Niedersachsen). „Es bringt ja nichts, wenn ich das Spiel gucke und dann schlechte Laune bekomme“, sagte Heyer am Freitagabend nach dem 2:2 seines HSV gegen den SC Paderborn.
Tatsächlich dürfte der Besuch bei seinen Eltern die bessere Wahl für seine Stimmung gewesen sein. Denn durch das 0:0 gegen Magdeburg hat der zweitplatzierte 1. FC Heidenheim den alten Abstand von vier Punkten zum HSV wiederhergestellt. Drei Spieltage vor dem Saisonende geht es für die Hamburger wahrscheinlich nur noch darum, die Relegation als Minimalziel abzusichern.
Dabei wollte vor dieser Spielzeit keiner im Club in die Saisonverlängerung, die im vergangenen Jahr gegen Hertha BSC verloren gegangen war. Doch inzwischen scheinen die beiden K.-o.-Spiele um die Bundesliga, die fast immer der Erstligist gewinnt, die letzte Möglichkeit auf den von Trainer Tim Walter versprochenen Aufstieg. Und auch die Hertha könnte am 1. und 5. Juni wieder der Gegner sein.
HSV-Aufstieg in Gefahr: Klarer Trend
„Wenn es nicht anders geht, dann nehmen wir die Relegation“, sagt Kapitän Sebastian Schonlau. „Wir reden insgesamt relativ negativ über die Relegation. Man darf aber nicht vergessen, dass auch das eine Möglichkeit ist, um aufzusteigen. Man hätte es dann immer noch in der eigenen Hand und könnte den Gegner zweimal besiegen.“ Sein entscheidender, angriffslustiger Satz: „Wenn es die Relegation werden sollte, dann Attacke!“
Beim HSV geben sich Spieler und Verantwortliche gewohnt selbstbewusst. Dabei bietet der Trend der vergangenen Wochen eher Anlass zur Sorge. Zieht man nur die zurückliegenden acht Spiele in Betracht, in denen nur zwei Siege geholt wurden, belegt der HSV Platz 12 mit mageren neun Punkten. Eine aufstiegsunwürdige Bilanz, die als Alarmsignal dienen sollte.
Zum Vergleich: Der vermeintlich bereits abgeschüttelte und nun doch wieder ins Aufstiegsrennen eingreifende Verfolger FC St. Pauli holte in diesem Zeitraum doppelt so viele Punkte (18).
Zu viele HSV-Fehler: Ein Qualitätsproblem?
Problematisch bleibt auch die Anzahl der Gegentore. Ganze 17-mal musste Torhüter Daniel Heuer Fernandes in jenen acht Spielen hinter sich greifen. Seit Innenverteidiger Mario Vuskovic Mitte November wegen Dopings gesperrt wurde, kassierte der HSV 63 Prozent mehr Gegentreffer. Die fehlende defensive Stabilität allein am Fehlen des Kroaten festzumachen, wäre zu einfach. Es ist aber einer der Gründe.
Ein weiterer: Die vielen individuellen Fehler, die sich zum Dauerthema beim HSV entwickelt haben.
Gegen Paderborn war es Miro Muheim, der auf unerklärliche Art und Weise seinem langsamer werdenden und zur Eckfahne laufenden Gegenspieler Florent Muslija in die Ferse lief und damit den Elfmeter zum 2:2 verschuldete. Vor dem 1:1 war es der sonst so zuverlässige Mittelfeldstratege Jonas Meffert, der für gewöhnlich durch sein Ein-Kontakt-Spiel positiv auffällt, diesmal aber ins Dribbling ging und den Ball verlor. Zwei Fehler, zwei Gegentore.
„Fußball ist ein Fehlersport“, sagt Trainer Tim Walter zum Trend seiner Mannschaft. „Wir kalkulieren kleine Fehler mit ein, weil unsere Spielweise sehr mutig und ballbesitzorientiert ist. Trotzdem agieren wir mit ganz, ganz viel Herz und Leidenschaft. Wir wollen in verschiedenen Momenten noch konsequenter sein.“
Mangelnde Konsequenz, sowohl offensiv als auch defensiv, moniert Walter bereits seit Wochen. Etwas an seiner Spielweise ändern, um die Fehleranfälligkeit zu reduzieren, will er deshalb aber nicht. Dabei können die Aussetzer in der Defensive längst nicht mehr als Einzelfälle schöngeredet werden. Wenn sich die gleichen Probleme Woche für Woche wiederholen, dann ist es irgendwann auch eine Frage der Qualität.
HSV: Muheim räumt zu viele Patzer ein
Allein Muheims Patzer haben den HSV in dieser Saison bereits zu viele Punkte gekostet. Der Umgang mit den Fehlern des Schweizers dient zugleich als Beispiel dafür, dass der Teamgeist in der Mannschaft weiterhin stimmt. Nach dem Paderborn-Spiel wurde der über seine sich wiederholenden Aussetzer frustrierte Muheim von seinen Mitspielern in der Kabine getröstet.
„Die Jungs machen sich untereinander gar keine Vorwürfe, weil wir ein verschworener Haufen sind“, sagte Walter und verwies abermals darauf, beim HSV eine Einheit geschaffen zu haben.
Linksverteidiger Muheim soll mit sich selbst am meisten hadern und eingeräumt haben, in dieser Saison zu viele verpasste Siege verschuldet zu haben. Konsequenzen muss er deshalb aber nicht befürchten. Weil er bei Walter hoch im Kurs steht und Konkurrent Noah Katterbach wegen eines Kreuzbandrisses ausfällt, wird Muheim weiterhin spielen.
Genauso wie sein Pendant auf der rechten Abwehrseite, Moritz Heyer, der seit Wochen schwächelt, aber ebenfalls nahezu konkurrenzlos ist. Seine vermeintliche Alternative William Mikelbrencis (19) spielt unter Walter überhaupt keine Rolle.
HSV-Gegner haben es zu einfach
Die Probleme auf den Außenverteidigerpositionen werden bis zur möglichen Relegation also nicht gelöst werden. Immerhin: Durch Bakery Jattas Rückkehr nach seiner Gelbsperre wird zumindest Heyer mehr defensive Unterstützung erhalten als am Freitag von Sonny Kittel.
Jatta alleine wird allerdings kaum dafür sorgen können, dass der HSV seine Stabilität aus der Hinrunde zurückgewinnt. Momentan wird es den Gegnern zu leicht gemacht, zu Torchancen zu kommen. Den optimal auf Walters Fußball eingestellten Paderbornern reichte oftmals ein langer Ball, um die hoch pressenden Hamburger zu überspielen.
Es lag an Glück, Heuer Fernandes und Schonlaus Grätsche des Abends, dass die Gäste das Spiel nicht schon in der ersten halben Stunde für sich entschieden. „Am Anfang kam relativ viel auf uns zu, da hatten wir auch Glück“, gestand Torjäger Robert Glatzel, der zudem die zu hohe Anzahl an individuellen Fehlern beklagte. „Die Gegentore fallen zu leicht.“
HSV-Spielsystem: Flucht oder Segen?
Sportvorstand Jonas Boldt erinnerte zwar vor der Partie berechtigterweise daran, dass die Gegentore zuletzt nichts mit dem von außen kritisch hinterfragten Spielsystem zu tun gehabt hätten, sondern aus verlorenen Zweikämpfen resultierten.
Was Boldt jedoch nicht sagte: Es liegt eben auch am Spielsystem, dass die Gegner zu oft vor dem Tor des HSV auftauchen. „Dass wir Situationen für den Gegner herstellen, passiert“, sagte Walter und ergänzte in Bezug auf die fehlende Stabilität über 90 Minuten: „Manchmal hat man mehr Glück, manchmal weniger. Der HSV muss sich grundsätzlich alles hart erarbeiten. Wir lamentieren nicht, sondern versuchen, uns zu verbessern.“
Ein Ziel, für das dem HSV bis zur voraussichtlichen Relegation weniger als ein Monat Zeit bleibt. Zugutehalten muss man Walter, dass die bislang 62 Saisontore zum Teil auch seiner Spielidee zu verdanken sind – so wie beim 2:1 gegen Paderborn, als Kittel Profit aus dem hohen Pressing schlug.
HSV hält an Tim Walter fest
Weil der HSV trotz der vielen Gegentore immer in der Lage ist, einen Treffer mehr als der Gegner zu schießen, hält Boldt bis Saisonende an Walter fest. Nach Abendblatt-Informationen folgt auch der Aufsichtsrat dieser Linie.
Drei beziehungsweise fünf Spiele vor Saisonende den Trainer zu wechseln, möchte niemand im Club, der nach außen eine Einheit demonstriert. „Wir sind nicht stur oder naiv, aber deutlich näher dran als andere“, sagt Boldt, der damit die Mannschaft und nicht den Aufstieg meinte.
Tabellenspitze der 2. Bundesliga
1. Heidenheim 34 / 67:36 / 67
2. Darmstadt 98 34 / 50:33 / 67
3. HSV 34 / 70:45 / 66
4. Düsseldorf 34 / 60:43 / 58
5. FC St. Pauli 34 / 55:39 / 58