Hamburg. Die Spieler des Kiezclubs gefallen sich in ihrer Rolle als Jäger, beim Rivalen wächst die Sorge vor allem unter den Fans.

Am Tag nach dem triumphalen 5:0 (4:0)-Auswärtssieg beim SV Sandhausen war beim FC St. Pauli nichts von Müßiggang oder Schluderei zu erkennen. Ganz im Gegenteil. Im Spielersatztraining der Reservisten ging es intensiv zur Sache, der eine oder andere Spieler meckerte lautstark mit seinen Nebenleuten, wenn sie beim Kleinfeldspiel nicht eng genug am Gegenspieler waren. Von außen lobte und kritisierte Cheftrainer Fabian Hürzeler fast unablässig.

„Es wird kein Halligalli-Training geben“, hatte der 30 Jahre alte Coach schon am Sonntag nach dem achten Sieg in Folge trotz der Länderspielpause angekündigt. Das bezog er nicht nur auf den Montag, sondern auch auf die folgenden Tage. Erst am Wochenende, nach dem Testspiel am Freitag gegen Hannover 96, wird es freie Tage geben. „Es wird weiter um Inhalte gehen. Die Spieler, die da sind, können wir auch in dieser Zeit weiter belasten und weiterentwickeln“, sagte Hürzeler.

Allein aus diesen Worten wird deutlich, dass der am 23. Dezember zum Cheftrainer ernannte Hürzeler noch einiges vor hat mit seinen Mannen – und zwar nicht irgendwann, sondern konkret in dieser Saison, in der noch fünf Heim- und vier Auswärtsspiele auf das Team warten – und vielleicht sogar zwei Relegationsspiele.

St. Paulis Irvine freut sich über Pause

Mit jedem weiteren Sieg in dieser atemberaubenden Erfolgsserie seit dem Rückrundenstart wird es ein kleines Stück wahrscheinlicher, dass St. Pauli tatsächlich noch in den Aufstiegskampf eingreift. „Die Pause kommt zu einer guten Zeit nach diesem großartigen Lauf, um frisch, hungrig und noch stärker wiederzukommen für die nächsten Wochen“, sagte Doppeltorschütze Jackson Irvine (30) nach dem Kantersieg in Sandhausen.

Schon das klingt nach einer Kampfansage, auch im letzten Viertel das Optimum aus der Saison, die im Winter total verkorkst schien, herauszuholen. Auch seine Teamkollegen fühlen sich wohl in der Rolle des Jägers, der nichts zu verlieren hat. „Klar wissen wir ungefähr, wo wir stehen. Wenn man der Verfolger ist, macht es einfach Spaß, die anderen ein bisschen zu jagen“, sagte Lukas Daschner, der im dritten Jahr bei St. Pauli seine beste Saison spielt.

Kollege Eric Smith meint forsch: „Wir mögen es, der Jäger zu sein. Es ist natürlich etwas Spezielles, dass es jetzt der HSV ist. Hoffentlich fangen wir sie ein.“

St. Pauli hat neun Punkte auf HSV aufgeholt

Doch wie realistisch ist es denn wirklich, dass es dem FC St. Pauli noch gelingt, acht Punkte auf den HSV oder gar neun auf den Tabellenzweiten 1. FC Heidenheim aufzuholen? Statisch betrachtet ist der Rückstand immer noch beachtlich, in der Dynamik gesehen aber liegt das Momentum klar beim FC St. Pauli, der seit Rückrundenbeginn den Rückstand auf den HSV von 17 auf acht Punkte hat schrumpfen lassen (siehe Tabellen unten).

Entscheidende Bedeutung werden aller Voraussicht die direkten Duelle mit den drei Topteams haben. St. Pauli muss gegen Heidenheim, den HSV und Darmstadt in dieser Reihenfolge jeweils auswärts ran. Da kann auch schnell der schöne Traum beendet sein. „Es klingt so leicht, immer weiter zu gewinnen. Das ist es aber nicht. Nach jedem Spiel, das man gewinnt, wird das nächste noch einmal schwerer“, mahnte jetzt Jackson Irvine.

Im Team des FC St. Pauli sind aber auch genügend Spieler, die es in der vergangenen Saison erlebt haben, auf der Zielgeraden durchgereicht zu werden. Damals machte ausgerechnet der HSV in den letzten fünf Spielen sieben Punkte gegenüber den Kiezkickern gut, die in dieser Zeit von Rang drei auf fünf zurückfielen. Jetzt könnten sie Revanche nehmen.

HSV äußert sich nicht über St. Pauli

Und wie geht der HSV damit um, sich plötzlich im Jagdvisier des ungeliebten Stadtrivalen zu fühlen? Es interessiert dort niemanden. Das könnte man zumindest meinen, da sich bislang kein HSV-Trainer, -Spieler oder -Verantwortlicher zur Sensationsserie des Kiezclubs geäußert hat. Und trotzdem stimmt die These natürlich nur bedingt. Besonders im Fanlager ist die Sorge vor der Erfolgsserie des ungeliebten Stadtnachbarn groß – man könnte sogar schon von Angst sprechen.

Der Fachbegriff „German Angst“, also diese diffuse Furcht oder dieses ostentativ vorgetragene „Leiden an der Welt, ist ohnehin ständiger Begleiter in der Fangemeinschaft des HSV. Noch ein Beispiel gefällig? Der Absturz in der Rückrunde.

Nach gerade einmal zwei sieglosen Spielen in Folge (und trotz zuvor sieben Partien in Folge ohne Niederlage) ist die allgemein formulierte Sorge, dass der HSV auch in dieser Saison wieder den Aufstieg auf der Zielgeraden verspielt, groß. Zumindest unter den Anhängern.

HSV-Coach Walter verspricht Aufstieg

Bei den Protagonisten hat sich diese „German HSV-Angst“ dagegen noch nicht wirklich verbreitet. Trainer Tim Walter, ohnehin kein Mann der leisen Töne, versprach noch vor wenigen Tagen, dass der HSV auf jeden Fall in der kommenden Saison in der Bundesliga spielen werde: „Wir steigen definitiv auf.“

Und obwohl es am Wochenende nur zu einem 0:0 gegen Holstein Kiel reichte, blieben auch die HSV-Spieler optimistisch. „Es gibt keinen Grund, den Kopf runterzunehmen, sondern jetzt den Kopf hoch“, sagte beispielsweise Kapitän Sebastian Schonlau, der nach seiner fünften Gelben Karte gegen Düsseldorf gesperrt fehlen wird.

Immerhin: Beim Derby am 21. April wird der Capitano wieder an Bord sein. Und trotz der Fan-Sorge, dass St. Pauli dem HSV auch in dieser Saison den Aufstieg verderben könnte, war das Interesse an den Tickets riesig. Als der Mitgliederverkauf vor einer Woche losging, legten 18.000 Karteninteressenten, die gleichzeitig um Punkt 10 Uhr online ein Ticket erwerben wollten, kurzzeitig die HSV-Homepage lahm.

Am Ende des Tages ging die Seite wieder – und die Karten waren alle weg. Das Derby kann also kommen. Bis dahin aber haben die beiden Rivalen noch jeweils drei Spiele zu bestreiten. Erst danach wird man erahnen können, um was es im Derby neben der „Stadtmeisterschaft“ noch geht.