Heidenheim/Hamburg. Nach einer sportlichen Zumutung holt der HSV in Heidenheim noch ein 0:3 auf. Jatta schießt das schönste Tor seiner Karriere.

Die meisten Fans des 1. FC Heidenheim hatten die Voith-Arena am späten Sonnabendabend bereits verlassen, als Merlin Polzin emotional platzte. „Yeeeees!“, brüllte der Co-Trainer des HSV mit einer Lautstärke, die viele Reporter in den Katakomben des Stadions zusammenzucken ließ. Polzin riss die Tür zur Gästekabine auf, klatschte ein paar Mal in die Hände und schrie: „Wir sind immer da. Wir sind der HSV!“, und schlug die Tür hinter sich zu.

Dann wurde es wieder still, nur etwas entfernt aus dem Stadioninneren hörte man die Jubelgesänge der HSV-Fans. Polzins Gefühlsausbruch war Ausdruck einer lange Zeit unmöglich scheinenden Aufholjagd des HSV im Topspiel der 2. Fußball-Bundesliga, aus einem 0:3-Rückstand beim Tabellendritten machten die zweitplatzierten Hamburger ein 3:3.

Dass Tabellenführer Darmstadt 98 durch einen 2:1-Sieg über Eintracht Braunschweig am Sonntag auf vier Punkte davonzog, trübte die Stimmung beim HSV nur minimal.

HSV spricht von Sieg nach 3:3

„Für die Mannschaft und das Gefühl war der Sieg brutal wichtig“, freute sich Torwart Heuer Fernandes, ehe er seinen Fehler bemerkte: „Ähh, das Unentschieden, meine ich. Das fühlt sich aber an wie ein Sieg, weil wir mit dem Rücken zur Wand standen. In Heidenheim ist es schon schwierig, nur ein Tor zu schießen. Wir haben drei gemacht.“

Noch in der Nacht reiste der HSV per Charterflieger vom Flugplatz Schwäbisch Hall zurück in den Norden. Der zusätzliche Punkt im Aufstiegsrennen war zwar mit im Gepäck, viel wichtiger war allerdings das Gefühl, das die Mannschaft durch den späten Ausgleich von Bakery Jatta (89. Minute) mitnahm.

„Wir haben nicht aufgegeben, an uns geglaubt und gekämpft“, sagte Jatta, als er am Sonntagmittag im Bauch des Volksparkstadions stand und über den perfekten Abschluss einer für ihn turbulenten Woche sprach. Noch am vergangenen Montag hatte der Gambier einen Termin vor Gericht, weil ein vermeintlich früherer Berater eine Millionensumme von ihm fordert.

Jatta schwärmt über Premieren-Traumtor

Die Müdigkeit war Jatta nach seinem Winkel-Traumtor noch anzusehen. „Mit dem linken Fuß habe ich noch nie so ein Tor geschossen“, sagte der Flügelspieler mit kleinen Augen, etwas schüchtern, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. „Wir haben eine gute Mentalität, haben den Kopf oben behalten“, sagte er.

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Stürmer Robert Glatzel, der im Spiel bei seinem Ex-Verein mit dem sehenswerten 2:3-Anschlusstreffer (79.) den Vorgeschmack auf Jatta geliefert hatte, freute sich: „Seit ich beim HSV bin, ist es mit Abstand das beste Unentschieden.“

Auch Tim Walter, der mit seinen Wechseln und der damit verbundenen Systemumstellung auf eine Dreierkette vor der zweiten Halbzeit einen großen Anteil am Sieg hatte, war die Bedeutung dieses Punktgewinns bewusst. „Das ist der neue HSV. Wir hören nie auf und glauben bis zum Ende an uns“, sagte der HSV-Trainer. „Über die ersten 60 Minuten, in denen Heidenheim klar die bessere Mannschaft war, muss man aber auch reden.“

HSV schonungslos über erste 60 Minuten

Es war – auch das ist Teil der Wahrheit – vor allem großes Glück, dass der lange Zeit desolat spielende HSV nach einer Stunde nicht mit fünf, sechs oder sieben Toren zurücklag. Walter nannte das Defensivverhalten „fahrig und schlecht“, Glatzel „bodenlos“, und für Heuer Fernandes waren die Hamburger „mental nicht auf dem Platz“. Nur weil Heidenheim nach den Toren von Jan-Niklas Beste (27.), Jan Schöppner (30.) und Tim Kleindienst (41.) etliche weitere Chancen ungenutzt ließ, blieb der HSV im Spiel.

Insbesondere Neuzugang Francisco „Javi“ Montero, der anstelle von Jonas David (Hüfte) in der Innenverteidigung begann, erlebte ein gruseliges Debüt, musste zur Pause bereits duschen gehen. „Manchmal läuft es einfach scheiße. Das war für ihn und für uns alle der Fall“, sagte Monteros Abwehrpartner Sebastian Schonlau zum missglückten Auftritt des Spaniers. „Es hätte aber eigentlich jeder ausgewechselt werden müssen“, ergänzte Glatzel.

HSV: Dieses 3:3 ist mehr wert

Neben Montero entschied sich Walter bei seinen Auswechslungen zur Pause für Jean-Luc Dompé, der wie Jatta turbulente Tage hinter sich hatte, nach seinem Autounfall unter der Woche aber auch auf dem linken Flügel völlig neben der Spur war. „Jean-Luc ist selbst am meisten enttäuscht, dass er heute nicht gut gespielt hat. Die Woche war nicht einfach für ihn“, sagte Walter, der neben der Systemumstellung auch mit der Einwechslung von Stürmer Andras Nemeth richtig lag. Der Kopfballtreffer des Neuzugangs zum 1:3 (71.) gab dem HSV die Hoffnung zurück.

Auch die Einwechslungen von Laszlo Benes und Noah Katterbach halfen. „Wir haben uns in der Halbzeit gesagt: Jetzt ist doch alles scheißegal, wir spielen einfach mutig nach vorne“, sagte Glatzel.

Auch in den vergangenen Zweitligajahren hatte der HSV mehrfach 3:3 gespielt – mit dem Unterschied, dass diese Spiele mentale Runterzieher waren. Im April 2021 verspielte man eine 3:0-Führung in Hannover, zwei Monate zuvor ein 3:1 bei Erzgebirge Aue. Nun dürfte das Remis positive Energie freisetzen, befand Kapitän Schonlau: „Das war ein Statement an die Liga. Man darf uns nie abschreiben.“

Die Statistik:

  • Heidenheim: Kevin Müller – Busch (74. Theuerkauf), Mainka, Siersleben, Föhrenbach – Maloney, Schöppner (90.+5 Schimmer) – Pick (63. Sessa), Thomalla (74. Geipl), Beste (74. Kühlwetter) – Kleindienst. – Trainer: Schmidt
  • HSV: Heuer Fernandes – Heyer, Montero (46. Kittel), Schonlau, Muheim – Meffert (66. Nemeth) - Reis, Königsdörffer (65. Katterbach) – Jatta, Glatzel, Dompe (46. Benes). – Trainer: Walter
  • Schiedsrichter: Deniz Aytekin (Oberasbach)
  • Tore: 1:0 Beste (27.), 2:0 Schöppner (30.), 3:0 Kleindienst (41.), 3:1 Nemeth (72.), 3:2 Glatzel (79.), 3:3 Jatta (88.)
  • Zuschauer: 15.000 (ausverkauft)
  • Gelbe Karten: Pick, Siersleben (4), Kevin Müller - Benes (3), Muheim (3)
  • Torschüsse: 24:14
  • Ecken: 4:5
  • Ballbesitz: 43:57 Prozent