Hamburg. Nachdem die Spieler verabschiedet wurden, betonte Sportchef Boldt, trotz des Debakels den Anti-HSV-Weg gehen zu wollen.
Genau in dem Moment, als ein Großteil der HSV-Spieler mit ihren durchaus ansehnlichen Autos am Montagmorgen ein letztes Mal um kurz nach 9.30 Uhr im Volkspark vorfuhren, wurde das offizielle Kommuniqué verschickt: Club und Trainer trennen sich zum Saisonende, stand am Tag nach dem desaströsen 1:5 gegen Sandhausen zum Saisonausklang in der Überschrift der Pressemitteilung, die kaum noch jemanden in Hamburg überraschte. Die einzige Überraschung an der Nachricht: Statt des chronischen Trainerrauswurfclubs HSV war es diesmal der FC St. Pauli, der nur einen Tag nach dem Saisonende Fakten schuf.
Zum Zeitpunkt der ohnehin erwarteten St.-Pauli-Entlassung war Jos Luhukays Trainerkollege Dieter Hecking 7,2 Kilometer westlich vom Millerntor längst am Volksparkstadion angekommen. Der Chefcoach des HSV hatte um 10 Uhr ein letztes Zusammentreffen in der Kabine angesetzt, bei dem sowohl er als auch Sportvorstand Jonas Boldt ein paar einordnende Worte an die Spieler verlieren wollten.
Nach einer guten Viertelstunde war alles gesagt, was es zu sagen gab. Der ausgeliehene Joel Pohjanpalo, der wie alle anderen Leihspieler von Boldt offiziell verabschiedet wurde, war um 10.21 Uhr der erste Noch-HSV-Profi, der das Stadion verließ. Der Rest folgte im Abstand von wenigen Minuten.
Was wird aus Hecking? Jetzt spricht Boldt
Etwas mehr Zeit nahm sich Boldt zwei Stunden später und zwei Stockwerke höher. In einer HSV-Loge saß der Sportchef an einem langen Tisch und stellte sich eine gute Stunde lang den zahlreichen Nachfragen einiger Journalisten zur verpatzten Saison. „Natürlich müssen wir uns alle hinterfragen, jeder Einzelne“, gab der 38-Jährige selbstkritisch am Montag zu, nachdem er im Anschluss an die 1:5-Blamage am Vortag zunächst keine Interviews geben wollte.
Dass Boldt aber grundsätzlich niemand ist, der sich vor einer schwierigen Situation drückt, das machte der frühere Leverkusener nach nur einer Nacht des Drüberschlafens sehr deutlich. Noch am späten Sonntagabend hätte er lange mit mehreren HSV-Mitarbeitern zusammen gesessen und gemeinsam Frust geschoben, so Boldt, ehe er am frühen Montagmorgen erneut mit vielen HSV-Mitarbeitern das Gespräch suchte und den schwierigen Blick nach vorne wagte.
HSV-Bekenntnis zu Hecking
Der wichtigste Mitarbeiter, mit dem Boldt am frühen Montag erneut das Gespräch gesucht hatte, war Trainer Dieter Hecking. Obwohl beide in der vergangenen Wochen betont hatten, auch im Falle eines Scheiterns gerne weiterhin zusammenarbeiten zu wollen, schien das Scheitern des Sonntags zu kolossal, als dass man nicht um eine erneute Nachfrage zu den Absichten der beiden umher kam. Boldts unmissverständliche Antwort: „Ich bleibe bei meiner Meinung, dass wir in dieser Konstellation sehr gut zusammengearbeitet haben.“ Und natürlich könne er sich auch eine weitere Zusammenarbeit gut vorstellen.
Das HSV-Debakel im Finale um die Relegation in Bildern:
Das HSV-Debakel im Finale um die Relegation in Bildern
Viel deutlicher hätte ein Bekenntnis zum Trainer, dessen Vertrag nach dem verpassten Aufstieg an diesem Dienstag ausläuft, nicht formuliert werden können. Boldt will also genau das machen, was in der vergangenen HSV-Dekade kaum jemand vor ihm gemacht hat: Er will trotz einer enttäuschenden Saison auch weiterhin auf den Trainer in der kommenden Spielzeit setzen. Bruno Labbadia und Thorsten Fink waren in den vergangenen zehn Jahren die einzigen Fußballlehrer, denen Ähnliches im Volkspark vergönnt war.
„Wir werden uns jetzt zusammensetzen und die Saison gemeinsam analysieren“, sagte Boldt, der im Anschluss daran auf ein gemeinsames „Weiter so“ hofft, das für viele Fans nach dem Sonntag sicher überraschend kommt. Es wäre gewissermaßen der Anti-HSV-Weg für den HSV.
Grundsätzliche Zielsetzung bleibt der Aufstieg
Ob es für Boldt und Hecking, die sich auch persönlich sehr schätzen, aber tatsächlich eine gemeinsame HSV-Zukunft gibt, hängt nun in erster Linie von Trainer Hecking ab. Der Coach muss zum einen zeitnah eine schlüssige Analyse des Versagens vorlegen. Zum anderen soll er sich in der Heimat in Bad Nenndorf in den kommenden Tagen ganz genau überlegen, ob er sich auf ein zweites Jahr beim HSV in der Zweiten Liga einlassen wolle – mit weniger finanziellen Möglichkeiten für die Mannschaft und für ihn selbst.
Nachdem das Aus von Hauptsponsor Emirates und von Stadionsponsor Klaus-Michael Kühne vorerst feststeht und Corona-bedingt auch lange Zeit Zuschauereinnahmen fehlen werden, muss der HSV seinen Etat (derzeit 30 Millionen Euro) wohl drastisch runterfahren. „Wir brauchen kein schnelles Ergebnis, sondern ein klares Ergebnis“, antwortete Boldt auf die Nachfrage, ob er mit einer zeitnahen Entscheidung im Fall Hecking rechne. „Beim Trainingsauftakt wird ein Trainer da sein.“
- Bezeichnend! Ein Youngster bricht das Schweigen der HSV-Profis
- Das sind die Gründe, warum der HSV versagt hat
- Was läuft falsch beim HSV? Eine Spurensuche
- Gruseln mit dem HSV: Was diese Blamage historisch macht
Welche Spieler beim avisierten Neustart Anfang August da sein werden, steht dagegen auf einem ganz anderen Blatt Papier. „Die Beweglichkeit haben wir uns selbst ein bisschen geschaffen, da die eine oder andere Planstelle ja nun frei geworden ist“, sagte Boldt nach den zahlreichen Abgängen, die am Montag verabschiedet wurden. „Wie gravierend dieser Umbruch sein wird, muss man sehen. Vieles hängt von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab, die wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig umreißen können“, ergänzte der Sportchef. „Im gesamten Fußball wird es coronabedingte Einbußen geben – sicher auch in Hamburg.“
Boldts Anti-HSV-Weg ändert allerdings nichts an der grundsätzlichen Zielsetzung des Clubs, so der Sportvorstand. Der HSV sei ein Club, der sich niemals mit der Zweiten Liga anfreunden sollte. Und während Boldt wortgewandt über Anspruch und Wirklichkeit referierte, fiel der Blick an die Wand, wo ein überdimensionales Foto von Magaths Schuss ins Glück 1983 beim Europapokalsieg der Landesmeister hing. „Wir können uns nichts mehr davon kaufen, dass der HSV früher erfolgreich war“, bekräftige Boldt. „Aber wir haben weiterhin Ambitionen – und wir brauchen eine Mannschaft, die Ambitionen verfolgt. Sonst wäre ich hier auch der falsche Mann.“
Aufsichtsrat will an Sportchef Jonas Boldt festhalten
Ob er der richtige oder der falsche Mann beim HSV ist, darüber hat in erster Linie natürlich der AG-Aufsichtsrat zu entscheiden. Nach Abendblatt-Informationen wollen sich die Räte um Chefkontrolleur Marcell Jansen schon bald zusammensetzten, um sich auch in dieser Frage ein Meinungsbild zu machen. Die Tendenz scheint allerdings klar: Anders als im vergangenen Jahr, als Boldt-Vorgänger Ralf Becker rausgeworfen wurde, wollen Jansen und Co auch in der Vorstandsfrage den Anti-HSV-Weg beschreiten und an den Verantwortlichen festhalten.
Boldt selbst ließ keine Zweifel aufkommen, dass er nach dem Scheitern keine Amtsmüdigkeit verspürt: „Ich habe weiterhin große Lust, diesen HSV-Weg, den wir angefangen haben, weiterzugehen. Ich habe sehr bewusst einen Zweijahresvertrag unterzeichnet und bin trotz des sehr enttäuschenden Saisonendes extrem motiviert.“
Während die Spieler zu diesem Zeitpunkt ihren einmonatigen Urlaub bereits begonnen hatten, dürfte für Boldt, Hecking und Sportdirektor Michael Mutzel die Arbeit nun erst so richtig beginnen. Am 12. oder 19. September soll die (für den HSV dritte) Zweitliga-Saison wieder losgehen – an dessen Ende es aus HSV-Sicht nur ein Motto geben kann: Aller schlechten Dinge sind drei – nur drei!