Hamburg. Nach dem desolaten Saisonende steht der HSV vor einer ungewissen Zukunft. Der Aufsichtsrat um Jansen bespricht die Hecking-Frage.

Der Einsatz war vorbildlich. Immer wieder sprang Jonas Boldt aus seinem Sitz in der HSV-Loge, schrie, gestikulierte und pöbelte. „Ey, das gibt es doch gar nicht“, rief der Sportvorstand mehrfach in das verwaiste Rund, wobei unklar war, was der baumlange Manager eigentlich meinte. Doch als das HSV-Drama seinen Lauf nahm, wurde auch Boldt ruhiger – und verschwand mit dem Abpfiff und der besiegelten 1:5-Schande gegen den SV Sandhausen wortlos im Bauch des Volksparkstadions.

Statt Boldt war es HSV-Präsident und AG-Aufsichtsratschef Marcell Jansen, der als erster (und neben Trainer Dieter Hecking als Einziger) nach dem Debakel seine Worte wiederfand. „Wir müssen uns an die eigene Nase fassen“, sagte Jansen beim TV-Sender Sky, wo er eine zeitnahe Aufarbeitung des katastrophalen Saisonendes ankündigte: „Wir werden in den kommenden Tagen in die Analyse gehen und die richtigen Schlüsse ziehen. Aber nicht heute und auch nicht morgen. Da ist jeder Gedanke fehlplatziert nach so einem Spiel.“

Welche Schlüsse zieht der HSV diesmal?

Man darf also wieder gespannt sein, was die richtigen Schlüsse diesmal sein werden. Vor einem Jahr hatte es zwei Tage gedauert, ehe Ex-Clubchef Bernd Hoffmann Schuldige ausgemacht hatte: „Es handelt sich um ein Systemversagen“, sagte Hoffmann damals – und garnierte diese Erkenntnis mit dem wahrscheinlich am meisten zitierten HSV-Satz des vergangenen Jahres: „Unser gesamtes Sportsystem ist (…) kollabiert.“

Seinerzeit dauerte es nicht lange, ehe beim HSV das passierte, was beim HSV immer passiert: Es rollten Köpfe. Für Sportvorstand Ralf Becker wurde Jonas Boldt vom Champions-League-Club Bayer Leverkusen verpflichtet. Für Trainer Hannes Wolf kam Dieter Hecking vom Europa-League-Teilnehmer Borussia Mönchengladbach. Die eben noch verstörte HSV-Anhängerschaft war sofort euphorisiert – und stellte nur eine Frage: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Ein gutes Jahr später könnte die bittere Antwort lauten: vielleicht nie.

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Während Jonas Boldt zunächst keine Fragen beantworten wollte, deutete Trainer Hecking auf der obligatorischen Pressekonferenz an, dass beim HSV sehr bald geredet wird. „Es wird das eine oder andere kritisch zu analysieren sein“, sagte der Coach. „Man muss das Ganze sehen. Wir haben das alles hier als großes Ganzes angefangen – und genau so sind wir auch als großes Ganzes gescheitert. Jetzt muss man mal gucken, ob wir dieses große Ganze wieder so aufstellen können, dass alle das Gefühl haben: Es kann im nächsten Jahr klappen.“

Die dringlichste Personalie, die man dafür gemeinsam klären müsste, ist: er selbst. Durch den Nichtaufstieg läuft Heckings Vertrag am morgigen Dienstag aus. Ab dem 1. Juli ist der HSV zunächst einmal ohne Cheftrainer, wobei sowohl Hecking als auch Boldt in der vergangenen Woche angedeutet hatten, dass man sich grundsätzlich auch im Falle eines Scheiterns eine weitere Zusammenarbeit vorstellen könnte.

Ob dieser Vorsatz auch nach dem kolossalen Scheitern vom Sonntag noch denkbar ist, soll sich bereits in den kommenden Tagen entscheiden. „Ich bin kein wankelmütiger Mensch“, sagte Hecking, der damit ein weiteres Mal hinterlegte, trotz allem gerne weitermachen zu wollen.

HSV-Aufsichtsrat um Jansen bespricht Hecking-Frage

Ob er das auch darf, soll allerdings nicht nur Boldt entscheiden. Nach Abendblatt-Informationen will sich der AG-Aufsichtsrat um Marcell Jansen zeitnah treffen, um vor allem auch über die Trainerfrage zu sprechen. Immerhin: Anders als im vergangenen Jahr wollen die Kontrolleure vorerst am Sporthauptverantwortlichen Boldt festhalten.

HSV-Präsident und Aufsichtsratsboss Marcell Jansen wird die Zukunft von Trainer Dieter Hecking besprechen.
HSV-Präsident und Aufsichtsratsboss Marcell Jansen wird die Zukunft von Trainer Dieter Hecking besprechen. © imago images / Michael Schwarz

Allerdings bleibt nach dem erneuten Zusammenbruch offen, ob der Aufsichtsrat das Vorstandsteam um Boldt und Finanzchef Frank Wettstein nicht doch aufstocken will. Nach dem Rauswurf Hoffmanns hatte man sich zunächst dafür entschieden, es bei Boldt und Wettstein bis zum Sommer zu belassen.

HSV steht vor Umbruch des Kaders

Wie groß der Umbruch in der Clubspitze ausfällt, ist also vorerst offen. Ganz im Gegenteil zum Umbruch der Mannschaft. Der dürfte ein weiteres Mal riesig werden. Neben den Leihprofis (Martin Harnik, Jordan Beyer, Louis Schaub, Joel Pohjanpalo und Adrian Fein) gelten die Abgänge von Jairo Samperio, Christoph Moritz und natürlich Kyriakos Papadopoulos als sicher. Für Rick van Drongelen (Kreuzbandriss) muss Ersatz geholt werden.

Zudem dürfte auch die Zukunft von Abwehrkollege Timo Letschert (noch ohne Vertrag), Ewerton (eine einzige Enttäuschung), Jeremy Dudziak (hat eine Ausstiegsklausel), Julian Pollersbeck, Tim Leibold, Josha Vagnoman und Bakery Jatta (könnten allesamt dringend benötigtes Geld bringen) extrem unsicher sein. Allzu viele Spieler bleiben da wieder einmal nicht übrig. Und täglich grüßt der HSV-Umbruch...

Jeremy Dudziak gilt als Verkaufskandidat beim HSV.
Jeremy Dudziak gilt als Verkaufskandidat beim HSV. © Witters

Springen dem HSV die beiden größten Millionenpartner ab?

Auch finanziell, das ist schon jetzt sicher, wird dieser HSV ab sofort sehr viel kleinere Brötchen backen müssen. Der Mannschaftsetat (30 Millionen Euro) muss natürlich gekürzt werden – bedingt durch die Corona-Krise und die vermutlich fehlenden Zuschauereinnahmen im Herbst wohl sehr viel krasser als ohnehin gedacht.

Obwohl ein Großteil der Sponsoren dem HSV auch im dritten Jahr in der Zweiten Liga die Treue halten will, bleibt ein weiteres Engagement der beiden größten Partner ungewiss. Das ist zum einen Klaus-Michael Kühne, dessen vier Millionen Euro teure Namensrechte am Volksparkstadion an diesem Dienstag auslaufen. Eine Einigung mit dem stimmungsabhängigen Investor ist jedenfalls nicht in Sicht.

Zum anderen ist da Hauptsponsor Emirates, der im Falle des Nichtaufstiegs eine Ausstiegsklausel aus dem bis 2022 laufenden Vertrag hat. Ende März versicherte ein Firmensprecher auf Nachfrage des Abendblatts zwar, dass man dem HSV auch in der Zweiten Liga erhalten bleiben wollen würde. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar, wie schwer auch Emirates die Corona-Krise treffen würde. Ausgang vorerst offen.

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Es wird also viel in den kommenden Tagen zu bereden geben. Ein „Ey, das gibt es doch gar nicht“ wird dann nicht mehr reichen. Um zehn Uhr werden sich Mannschaft und Verantwortliche an diesem Montag vorerst noch ein letztes Mal am Stadion treffen.

Trainer Hecking sagte, dass es noch einige Dinge zu bereden gebe. Und auch als ein Journalist daraufhin nachfragte, wie es anschließend konkret weitergehen würde, hatte Hecking eine konkrete Antwort parat: „Dann wird es in den Urlaub gehen.“

Na dann: schöne Ferien!