Hamburg. Dieter Hecking machte Fehler, Transfers floppten, Talente wurden nicht integriert, und die Abwehr war das größte Problem. Eine Analyse.
Katerstimmung beim HSV! Die Relegation wurde auf dem Silbertablett serviert, aber die Hamburger griffen nicht zu. Weil Arminia Bielefeld 3:0 gegen Heidenheim gewann, hätte der HSV nur einen Punkt für zwei Endspiele um den Aufstieg gebraucht. Doch die Mannschaft versagte, als es drauf ankam, ließ jegliche Courage vermissen und ging sang- und klanglos 1:5 gegen Sandhausen unter – einen durchschnittlichen Zweitligisten.
Statt sich die letzte Möglichkeit auf die ersehnte Rückkehr in die Bundesliga zu wahren, steht der HSV nun erneut vor einem riesigen Scherbenhaufen. Jedes Jahr gibt der Verein das gleiche Trauerspiel ab, die Leidensfähigkeit der Fans scheint endgültig überstrapaziert.
Nun wollen die Club-Bosse um Aufsichtsratschef Marcell Jansen und Sportvorstand Jonas Boldt also in die Analyse gehen, wie es zu dem erneuten Scheitern kommen konnte. Es ist eine im Volkspark bekannte Prozedur, die in der Vergangenheit häufig zu einem Austausch von Führungskräften und Spielern führte. Auch diesmal steht der HSV vor einem gewaltigen Umbruch, der wegen wirtschaftlicher Hürden – vor allem bedingt durch die Corona-Krise – zu einer Herkulesaufgabe werden dürfte.
Warum der HSV versagt hat
Zunächst einmal muss die Frage beantwortet werden, wie der HSV trotz bester Voraussetzungen erneut den Aufstieg verspielen konnte. Das Abendblatt ist bereits in die Analyse gegangen und hat einige Gründe dafür ausgemacht.
15 Neuzugänge (zwölf im Sommer, drei im Winter) holte HSV-Sportvorstand Jonas Boldt in dieser Saison und stellte Trainer Dieter Hecking damit mehr als eine komplett neue Mannschaft zur Verfügung. Doch Masse ist eben nicht gleich Klasse. Es waren vor allem Heckings Transferwünsche Martin Harnik und Ewerton, die auf ganzer Linie enttäuschten. Vor allem die zwei Millionen an Ablöse für den Brasilianer Ewerton hätte der Club sinnvoller investieren können.
Hinzu kommt, dass der teuerste Neuzugang David Kinsombi nie an die Leistung anknüpfen konnte, wegen der er für drei Millionen Euro aus Kiel verpflichtet wurde. Das vermeintliche Supertalent Xavier Amaechi (19), mit einer Ablöse von 2,5 Millionen Euro der zweitteuerste Transfer, kam in der Liga lediglich 32 Minuten zum Einsatz. Es macht den Eindruck, als wäre vergessen worden, den jungen Engländer in die Mannschaft zu integrieren. Ein Vorwurf, den sich Hecking gefallen lassen muss.
HSV-Säulen fielen in ein Leistungstief
Warum der HSV nur einen Sieg mehr als Aue holte und sogar zwei Punkte weniger einfuhr als in der ebenfalls enttäuschenden Vorsaison, hat weitere Gründe. So waren es eindeutig zu viele Spieler, die plötzlich in ein unerklärbares Leistungsloch fielen – und das war nicht nur ein mentales Problem:
- Sonny Kittel schoss für einen Flügelspieler starke elf Saisontore. Doch zur Wahrheit gehört eben auch, dass er nach einem überragenden Saisonstart seit Februar nicht mehr traf.
- Die Identitätsdebatte um Bakery Jatta schweißte die Mannschaft zunächst zusammen. Auch den Gambier schien die unrühmliche Diskussion um seine Person zu beflügeln. Seit der Rückrunde ist er aber nicht mehr wiederzuerkennen. Seine Auftritte hatten zuletzt nicht mal mehr Zweitliganiveau.
- Mittelfeldspieler Adrian Fein begeisterte den HSV mit einem seit Jahren vermissten Auge für Raum und Mitspieler. Doch auch die Formkurve der Bayern-Leihgabe zeigt seit Monaten nach unten. Am Ende konnte er einem nur noch leidtun.
- Wer über Rick van Drongelen spricht, erwähnt als Erstes seine für die Mannschaft so wichtige Mentalität. Seine Qualitäten als Verteidiger blieb er dagegen die gesamte Saison über schuldig. Es ist nicht nur Pech, dass der Verteidiger an fast allen Gegentoren direkt oder indirekt beteiligt war.
Die Abwehr war das größte HSV-Problem
Es könnten noch weitere Profis aufgezählt werden, die ihre Erwartungen nicht erfüllt haben. Doch allein diese vier Spieler sollten eine Achse bilden, die plötzlich wegbrach, was zum Zusammenbruch des HSV führte. Vor allem van Drongelen steht exemplarisch für die gravierenden Probleme in der Innenverteidigung. Kein Spieler des Kaders konnte auf dieser Position die nötige Sicherheit vermitteln.
Timo Letschert tat dies vielleicht noch am ehesten, Gideon Jung tat dies noch nie, Ewerton wird dies wohl nie tun und über van Drongelen ist alles gesagt. Im Abwehrzentrum steht der HSV nun vor dem größten Umbruch. Zumal van Drongelen nach seinem Kreuzbandriss frühestens im Laufe der Rückrunde nächstes Jahr wieder Fußball spielen kann.
Auch Hecking hat Fehler gemacht
Auch Trainer Dieter Hecking darf sich nicht frei von Kritik sprechen. Mit seinen Entscheidungen über Taktik und Personal lag er zuletzt häufig falsch. Gegen Sandhausen, in einem Spiel, in dem es um alles oder nichts ging, wählte er eine viel zu defensive Grundausrichtung mit drei Innenverteidigern, von denen der langsamste, Ewerton, 45 Minuten im Zentrum beweisen durfte, dass er selbst zum Hinterherlaufen seiner Gegenspieler zu langsam ist.
Danach wurde der Brasilianer erlöst. „Ihn in die Dreierkette zu stellen, könnte ein Problem gewesen sein. Dafür übernehme ich die Verantwortung“, sagte Hecking.
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Zugutehalten muss man dem erfahrenen Trainer, dass er in seinen Analysen immer sehr klar ist und den Blick schnell nach vorn richtet. So auch nach dem Debakel gegen Sandhausen. „Es wird das eine oder andere kritisch zu analysieren sein“, sagte Hecking, dessen Mission gescheitert ist. „Wir haben das alles hier als großes Ganzes angefangen – und genau so sind wir auch als großes Ganzes gescheitert. Jetzt muss man mal gucken, ob wir dieses große Ganze wieder so aufstellen können, dass alle das Gefühl haben: Es kann im nächsten Jahr klappen.“
Nur dann hat eine Zukunft von Hecking beim HSV Sinn
Doch wie geht es nun weiter? Zunächst muss der HSV die Trainerfrage klären, um die Kaderplanung voranzutreiben. Eine weitere Zusammenarbeit mit Dieter Hecking ist nur dann sinnvoll, wenn eine gemeinsame Strategie gefunden wird. Vorstand Jonas Boldt und Sportdirektor Michael Mutzel präferieren es, vermehrt auf Spieler zu setzen, die sich in Hamburg entwickeln wollen und noch nicht den Zenit ihrer Karriere erreicht haben.
Nun müssen die beiden Manager entscheiden, ob Hecking für diesen Prozess der richtige Trainer ist. Sieht der 55-Jährige eigene Fehler ein? Kann er junge Talente wie Amaechi, Stephan Ambrosius und den zurückkehrenden Jonas David entwickeln? Kann sich der Trainer bei Transferfragen zurückstellen und anders als im Vorjahr auf Routiniers wie Harnik oder Ewerton verzichten? Und kann er das Abwehrproblem lösen? Nur dann ist Hecking der Richtige. Der Richtige, um dem HSV endlich wieder bessere Zeiten zu bescheren.